Das Portrait
: Kunstliebhaber und Camorra-Oberboß

■ Francesco Schiavone

Edgar Wallace hätte seine helle Freude gehabt: So wie Italiens Anti-Mafia-Polizei DIA am Samstag den derzeit gefürchtetsten Camorra-Boß Neapels aufgespürt und gefaßt hat, gibt es das sonst nur in den unterirdischen Gruft- und Kanaljagden des englischen Kriminalromans. Francesco Schiavone, 44, seit 25 Jahren mit dem Spitznamen „Sanokan“ aus der gleichnamigen Fernsehserie, lebte in einem regelrechten Bunkergeflecht hinter verschiebbaren Mauern und unter absenkbaren Böden, versehen mit heimlichen Ausgängen und inmitten eines Proviantvorrates, so daß er trotz der großen Zahl seiner mit ihm lebenden Familienmitglieder monatelang ohne Kontakt zur Außenwelt hätte existieren können.

Dem Aussehen nach kommt er daher wie ein eher ländlicher Typ, die Wohnungseinrichtung dagegen läßt einen Intellektuellen und musischen Menschen vermuten: Neben zwei Computeranlagen mit Internetanschluß war da eine reichhaltige Bibliothek mit Werken vor allem aus der bildenden Kunst. Dazu ein Atelier, in dem der Boß zahlreiche Ölgemälde geschaffen hat, darunter auch Selbstbildnisse und historische Szenen. Schwer zu glauben, daß dieser Mann wegen zahlreicher Morde gesucht wurde – mindestens neun haben die Staatsanwälte in ganz Italien und auch in Frankreich mittlerweile zur Anklage gebracht – und daß es sich bei ihm um die derzeit nahezu unumstrittene Nummer eins der neapolitanischen Unterwelt handeln soll.

Nachdem der vorige Oberboß Carmine Alfieri vor drei Jahren gefaßt wurde und dessen Clan langsam in anderen Gruppen aufgegangen war, hat sich offenbar „Sandokan“, der erstmals mit 18 Jahren wegen Gewalttätigkeiten ins Gefängnis kam, mit Hausmacht in der nördlichen Campania zwischen Caserta und Mondragone zum Oberbefehlshaber der großen Camorra-Gruppen aufgeschwungen. Zugute gekommen ist ihm dabei offenbar seine nahezu unbegrenzte Fähigkeit, sich und seine Leute auch bei Politikern unentbehrlich zu machen: Mehr als zwei Dutzend Verbindungen zu Stadträten und regionalen Entscheidungsträgern sind bereits gerichtsnotorisch.

Wie genau die Anti-Mafia-Polizei auf Schiavones Versteck gestoßen ist, bleibt bislang allerdings etwas unklar; möglicherweise hat ein Aussteiger aus dem engeren Umfeld „Sandokans“ mitgeholfen. Werner Raith