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Großstädtisches Motiv: die Dorfkirche

New York/USA – Gelmeroda/Thüringen – New York/USA: In einer umfangreichen Retrospektive zeigt nun die Neue Nationalgalerie die lichtdurchfluteten, kristallin-scharfkantigen Bilder des Lyonel Feininger  ■ Von Ulrich Clewing

Eine Straße in einem Dorf in Thüringen: graue, schmucklose Fassaden, windschiefe Giebel, am Ende eine kleine Kirche aus Haustein, für die triste Ewigkeit gebaut. Doch was hat der Maler Lyonel Feininger daraus gemacht, als er 1929 zum Arbeiten hierherkam: Bedrohlich spitz ragt der Kirchturm in den Himmel, rötliches, vielfach gebrochenes Licht überstrahlt alles, während sich der große, menschenleere Platz mitsamt den umstehenden Häusern in einem unentwirrbaren Geflecht von Linien, Kanten und Farbflächen aufzulösen scheint. Kein anderer Künstler hat jemals einer unauffälligen Dorfkirche zu so spektakulären Auftritten verholfen, hat Provinz derart großstädtisch gemalt wie Lyonel Feininger dies in seiner mittlerweile längst berühmten „Gelmeroda“-Serie tat.

Mehr als die Hälfte der Bilder aus dieser zwischen 1913 und 1936 entstandenen Serie, nämlich sieben von elf Variationen des Motivs, sind derzeit in der großen Feininger-Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie am Kulturforum zu sehen. Allein schon unter organisatorischen Gesichtspunkten eine bemerkenswerte Leistung: Die Gemälde sind heute über die ganze Welt verstreut, sie mußten aus dem Guggenheim- und dem Metropolitan Museum in New York, aus der schottischen Nationalgalerie in Edinburgh und dem Kunsthaus Zürich herbeigeschafft werden.

Auch sonst hat man keine Mühen gescheut bei dieser von der Stiftung Klassenlotterie finanzierten Unternehmung: Mit 137 Arbeiten aus nahezu seiner gesamten Schaffenszeit ist die Ausstellung nicht nur die erste dem Künstler gewidmete in Berlin seit 1931, sondern (die Ausstellung wird noch im Münchner Haus der Kunst zu sehen sein) überhaupt die umfangreichste Feininger-Retrospektive, die bisher in Deutschland veranstaltet worden ist. Darüber hinaus werden ergänzend einzelne Werke anderer Maler präsentiert – von William Turner, von Caspar David Friedrich, von Georges Braque, Picasso und Franz Marc, um die Einflüsse und Anregungen hervorzuheben, die Feininger während seiner Laufbahn aufgenommen hat.

Lyonel Charles Feininger, 1871 als Sohn eines aus Baden eingewanderten Geigers und einer Sängerin in New York geboren, war 36 Jahre alt, als er sich endgültig für die bildende Kunst entschied. 1888 siedelte er nach Berlin über, um ein Studium an der dortigen Kunstakademie zu beginnen. Aber bald schon merkte er, daß seine Neigung zum Aktzeichnen und ähnlichen akademischen Übungen begrenzt war. Feininger verdiente sich sein Geld fortan als Karikaturist, belieferte so renommierte Blätter wie die Chicago Sunday Tribune, Harper's Round Table, Das Narrenschiff, Ulk und das Berliner Tagblatt. In seinen ersten Bildern, die so gar nichts mit dem Feininger der Gelmeroda-Serie zu tun haben, ist diese Vorgeschichte deutlich erkennbar. Langgestreckte, grotesk proportionierte Figuren beherrschen die Szenerie, und auch die Kompositionen sind noch eng an satirische Zeichnungen angelehnt.

1912 sieht Feininger auf einer Reise nach Paris zum erstenmal ein Gemälde von Georges Braque. Dessen Kubismus beeindruckt den inzwischen 41jährigen Künstler so stark, daß er ihn sogleich adaptiert, allerdings auf seine eigene, unverwechselbare und auch ein wenig kunstgewerbliche Art. Ein früher Höhepunkt ist „Gelmeroda I“ von 1913: Aus Strahlenbündeln von Senkrechten und Diagonalen taucht – wie durch ein Prisma betrachtet – schemenhaft der charakteristische Kirchturm auf, eine einheitliche Perspektive existiert nicht mehr, alles scheint in Bewegung zu sein.

Religiöse Beweggründe, die über die damals weitverbreitete Sehnsucht nach Natur und ursprünglichem Dasein hinausgingen, kann man trotz der Häufung seiner Kirchenbilder mit ziemlicher Sicherheit ausschließen. Es waren wohl hauptsächlich formale Aspekte, die Feininger an dem Motiv faszinierten, auch wenn er im Juni 1913 notierte: „Es gibt Kirchtürme in gottverlassenen Nestern, die mir das Mystischste sind, was ich von sogenannten Kulturmenschen kenne.“

In der Folgezeit nähert sich Feininger, der 1919 von Walter Gropius als einer der ersten Lehrer an das neugegründete Bauhaus berufen wurde, immer mehr der Abstraktion. Die Kompositionen verlieren an Dramatik, der Bildaufbau wird statischer, bleibt aber nach wie vor hochgradig artifiziell. Die Gemälde, die bis zu seiner von den Nazis erzwungenen Emigration nach Amerika entstehen, wirken, als hätte Feininger zerbrochene Glasscheiben über sie gelegt. Einem dieser Werke gab er gar einen entsprechenden Titel, dem „Glasscherbenbild“ von 1927.

Nach der unfreiwilligen Rückkehr nach New York ändert Feininger seinen Stil. Das Kristalline, Scharfkantige, Lichtdurchflutete verschwindet aus seinen Bildern, er fängt an, gestisch zu malen, aber man merkt, daß der Maler seine Bezugspunkte verloren hat. Zwar sucht er nach neuen gestalterischen Möglichkeiten, doch sie zu finden will ihm nicht mehr so recht gelingen. Immerhin: An Anerkennung hat es Feininger auch in den USA nicht gefehlt. 1947, neun Jahre vor seinem Tod, wurde er zum Präsidenten der Federation of American Painters and Sculptors gewählt.

„Lyonel Feininger – von Gelmeroda nach Manhattan“; bis 11. Oktober, Neue Nationalgalerie, Potsdamer Str. 50, Dienstag bis Freitag 10–20 Uhr, Samstag und Sonntag 11–20 Uhr

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