Seele der Front

Mentalitätsgeschichte aus dem Schützengraben: Bernd Ulrichs Untersuchung über den deutschen Feldpostbrief in der Kriegs- und Nachkriegszeit von 1914–1933  ■ Von Harry Nutt

Die eigentliche Eingreifmacht, schrieb der französische Geschwindigkeitsforscher Paul Virilio am 2. September 1990, als der Golfkrieg bereits einen Monat lang andauerte, ist das Fernsehen. „Sicher, die Hauptdarsteller sind Saddam Hussein und George Bush, aber auch Ted Turner, der Boß von Cable Network News, hat eine wichtige Rolle übernommen.“ Am Ende hatte CNN den Golfkrieg gewonnen. Der Golfkrieg und die Live-Übertragung auf CNN, so Virilio, kennzeichneten den Übergang vom Zeitalter der Zensur und Propaganda zum Zeitalter der strategischen Desinformation und Meinungsmanipulation. Doch schon der Erste Weltkrieg als erster mediatisierter Krieg der Geschichte hatte sein Medium, das nicht zuletzt der Unterhaltung diente. Er stand, so Virilio, bereits ganz im Zeichen einer Logistik der Wahrnehmung.

Die Grundlagen einer solchen von Virilio eher assoziativ entwickelten Logistik hat der Berliner Historiker Bernd Ulrich in seiner umfangreichen Untersuchung von deutschen Feldpostbriefen zwischen 1914 und 1933 gesichtet. Der Feldpostbrief galt Historikern bislang eher als zwiespältige Quelle. Subjektive Augenzeugenschaft und das rasche Bestreben der Reichswehr, die Mitteilungen der Kriegsteilnehmer für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, sind nur schwer auseinanderzuhalten. Eben diese Doppelbödigkeit ist der Untersuchungsgegenstand von Ulrichs Arbeit, die sowohl als Geschichte eines bisher kaum untersuchten authentischen Mediums wie als unerschöpfliche Quelle einer Mentalitätsgeschichte in den Zeiten des Krieges gelesen werden kann.

Die Bedeutung der Feldpost für ihre strategischen Absichten hatte die Oberste Heeresleitung (OHL) schon nach wenigen Kriegswochen erkannt. „Die Haltung der Truppen im Felde“, heißt es in einer Verlautbarung, „wird auf das stärkste beeinflußt durch die geistige Verbindung mit der Heimat. (...) Die erhöhte Stimmung, die der wechselseitige Verkehr mit der Heimat erzeugt, kommt der Schlagkraft des Heeres zugute.“ Der Heeresleitung lag also einiges an einer funktionierenden Feldpost. Das war nicht immer leicht. Die Briefbeförderung dauerte je nach Kriegslage oft Wochen, nicht selten ging Post verloren. Mit zunehmender Kriegsdauer, Todeserfahrung und Todesangst erwies sich die Feldpost außerdem als ambivalentes Medium zur Übermittlung von Stimmungen. Die anfängliche Kriegseuphorie schlug, wie viele Briefe zunächst vorsichtig, dann immer offener dokumentieren, in Skepsis und Kriegsgegnerschaft um. In einem Brief vom 17. Oktober 1914 heißt es: „Wer für den Krieg weiter ist, der ist überhaupt kein Mensch mehr. Die Not könnte nicht größer sein im Feindesland und auch daheim. (...) Wir haben oft drei Tage nichts zu essen bekommen. In den Zeitungen steht zu lesen, daß die Verpflegung vorzüglich sei.“ Der Feldpostbrief konnte zu einem für die Heeresleitung gefährlichen Beschwerdemedium werden. Das entging ihr keineswegs. Zu den Bemühungen, die Feldpost pünktlich und zuverlässig zu befördern, kamen aufwendige Zensurmaßnahmen. In einem Brief heißt es: „da mag man nicht alles schreiben, auch wenn es völlig einwandfrei ist, wenn man weiß, daß noch Jemand die Briefe durchsieht“. Zensur war eine Seite der Steuerung, die gezielte Verwendung von Feldpostbriefen und deren Abdruck in Heimatzeitungen eine andere. Häufig sich wiederholende Formulierungen und stilistische Phrasen zeigen an, daß der Feldpostbrief sich zwar instrumentalisieren ließ, andererseits aber nicht restlos kontrolliert werden konnte. So entsteht mit dem Feldpostbrief auch ein quasiliterarisches Ausdrucksmedium, das viele junge Leute erstmals mit dem Briefschreiben konfrontierte.

Bernd Ulrich hat sich bei seiner Arbeit nicht damit begnügt, das Material zu ordnen. So liest sich das Buch streckenweise als spannende Dokumentensammlung, in der Deutung und präzise Funktionsbestimmungen nicht zu kurz kommen. Feldpostbriefe waren, schreibt Ulrich, „vielstimmiges Echo eines alles Bekannte oder auch nur Erahnte überbietenden Vernichtungskrieges und seiner Auswirkungen auf den von Ungerechtigkeiten bestimmten und die sozialen Ungleichheiten der zivilen Gesellschaft reproduzierenden Frontalltag. Ihr geschätzter Gehalt als psychologisches Dokument, als authentisch-seelenvoller Kommentar zu den am Schreibtisch ersonnenen Sinnvorgaben wandelte sich überraschend schnell zum brieflichen Abbild der destruktiven Kräfte des Krieges, unter deren Wucht nun auch die hochgestimmteste Seele zu fragmentieren begann.“ Bernd Ulrichs Untersuchung zeigt, daß es von den ersten Tagen des Krieges an auch um einen Kampf um Darstellung ging. Wenn CNN am Golf oder anderswo seine Kameras aufbaut, sind vor allem die Medien zur Herstellung von Authentizität verfeinert worden.

Bernd Ulrich: „Die Augenzeugen. Deutsche Feldpostbriefe in Kriegs- und Nachkriegszeit 1914–1933“, Klartext Verlag, Essen 1997, 344 Seiten, 58 DM