Ob in den Parteien, im Parlament oder in der Landesregierung – in Berlin hat die bevorstehende Bundestagswahl die Streitkultur restlos zum Erliegen gebracht. Die Große Koalition dümpelt dahin, für die SPD lautet die Marschrichtung längst rot-grün. Aus Berlin Barbara Junge

Sehnsucht nach Aufbruch

Kein erotisches Thema“. Mehr hatte Berlins CDU- Fraktionschef Klaus-Rüdiger Landowsky dazu nicht zu sagen. Fast ein ganzes Jahr lang war die Regierungsarbeit von CDU und SPD auf die Reduzierung der Berliner Bezirke und die Modernisierung der Hauptstadtverwaltung konzentriert gewesen. Aber während SPD-Fraktionschef Klaus Böger den entsprechenden Parlamentsbeschluß am 26. März dieses Jahres als „Jahrhundertwerk“ feierte, formulierte Landowsky – der ungekrönte Meister in der Disziplin, politische Gefühlslagen auf den Punkt zu bringen – nur trocken, was die meisten BerlinerInnen ohnehin denken: „kein erotisches Thema“.

„Stell dir vor, es ist Wahlkampf, und keiner haut drauf“, prophezeit Landowsky zu Beginn der parlamentarischen Pause einen Sommer, dessen politische Brisanz auf der nach unten offenen Richterskala gemessen werden soll. Innerhalb wie außerhalb der Hauptstadt glaubt man schon lange: Die Politik in Berlin befindet sich in einem Zustand der Lethargie.

In der deutschen Hauptstadt regiert eine Große Koalition, die nur noch durch äußere Kräfte aneinandergekettet ist. Im Herbst nächsten Jahres erst stehen die Neuwahlen des Landesparlamentes an, doch schon seit über einem Jahr macht diese Koalition den Eindruck, ein baldiges Ende herbeizusehnen. Die Partner haben sich innerlich längst voneinander verabschiedet.

Bis zum Beginn der jetzigen Sommerpause war vor allem in der Union nur ein Schreckgespenst bestimmend: daß die SPD auf einen Schröder-Bonus setzt und gleichzeitig mit den Bundestagswahlen in Berlin vorzeitige Neuwahlen erzwingt. Diese Gefahr ist zwar vorbei, aber längst hat die SPD ihre Marschrichtung ausgegeben: rot- grün. Ein Bündnis mit den in Berlin traditionell starken Grünen gilt als einzige politische Zukunftsoption. „Rot-grün spätestens 1999“, kündigt etwa SPD-Fraktionschef Klaus Böger an.

„Die Rattenrede von Klaus Landowsky war der psychologische Wendepunkt“, gibt auch Berlins Stadtentwicklungssenator und SPD-Linke Peter Strieder zu. Diese „Rattenrede“, als Klaus Landowsky eine Säuberung der Stadt mit den Worten: „Wo Müll ist, sind Ratten, und wo Verwahrlosung herrscht, da ist Gesindel“ postulierte, liegt inzwischen eineinhalb Jahre zurück. Bei der CDU ist die Stimmung nicht viel besser. Nur mit Mühe gelingt es der Parteiführung um den Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen, die Hauptstadtunion geschlossen zu halten. Erst im März hat Diepgen als CDU- Landesvorsitzender einen Umsturzversuch aus den eigenen Reihen knapp überstanden. Eine stramm konservative Truppe war unter dem Label „Union 2000“ angetreten, um die verhaßte Koalition mit den Sozialdemokraten aufzumischen. Doch die CDU steht im bürgerlichen Lager allein auf weiter Flur, denn die FDP ist in der Hauptstadt auf den Status einer Bürgerinitiative geschrumpft.

Die Stimmung im Senat, der Berliner Landesregierung, ist entsprechend. Oft ähnelte das Klima bei Senatssitzungen in den vergangenen zwei Jahren der eisigen Atmosphäre deutscher Amtsstuben. Nicht jeder Senator hält es stets für nötig, zu Kabinettssitzungen zu erscheinen. Die CDU regiert mit einem Wirtschaftssenator Elmar Pieroth, der nur darauf wartet, endlich von seinen Pflichten entbunden zu werden, um sich dem wirtschaftlichen Aufbau Osteuropas widmen zu können. Doch mangels Alternative läßt der Regierende Bürgermeister ihn nicht ziehen. Die SPD wiederum profiliert sich vor allem dadurch, mit wachsender Vehemenz eine eigene Senatorin zu demontieren: die Jugendsenatorin Ingrid Stahmer, die im letzten Wahlkampf immerhin die Spitzenkandidatin der Berliner Sozialdemokraten war.

Nicht ohne Grund sind die beiden einzig wirklich profilierten SenatorInnen Importe: die eiserne Finanzsenatorin Annette Fugmann-Heesing (SPD) und der umstrittene Innensenator Jörg Schönbohm (CDU). Doch der mächtige Klaus Landowsky bezeichnet die Finanzsenatorin schlicht als „begeisterte Leiterin des Rechnungswesens“, für Böger ist der Innensenator einer, der „Granaten wirft“. Er nannte Schönbohms Äußerungen zur Ausländerpolitik eine „üble Schaumschlägerei“. Ein Phänomen, was dieser Senat dennoch verantwortet: 58 Milliarden Mark – so hoch steht das Land Berlin bei den Banken in der Kreide. Für 24 Milliarden Mark will die Landesregierung in den nächsten 15 Jahren mit einem Liegenschaftsfonds Berliner Gebäude und Gelände verkaufen, für knapp 3 Milliarden wurden im vergangenen Jahr die Elektrizitätswerke verscherbelt. Danach der Gasversorger für 1,5 Milliarden Mark, und bald kommen die Wasserwerke des Landes unter den Hammer. Jenseits aller Lethargie fallen in der Hauptstadt derzeit politische Entscheidungen, die für Jahrzehnte die Voraussetzung für politisches und gesellschaftliches Handeln verändern.

Keine andere bundesdeutsche Stadt etwa ist bislang wie Berlin aus dem sozialen Wohnungsbau komplett ausgestiegen. Und keine andere Stadt wird auch mit Stein und Mörtel so sichtbar und umfassend umgebaut wie Berlin – für die Bedürfnisse von Hauptstadt und Regierungssitz. „Vielen passiert hier sogar viel zu viel“, moniert einer der Sozialdemokraten, die in Berlin diesen Kurs der Entstaatlichung vorantreiben. Doch statt die Steuerung dieses Kurses in der Hand zu halten, macht der Berliner Senat den Eindruck eines Verwaltungsgremiums. Und selbst konservative Kräfte wie etwa der einflußreiche Berliner Bauunternehmer Klaus Groth kritisieren: „Der Liegenschaftsfonds ist ein Plan, der aus der Haushaltsnot geboren wurde.“

„Aber doch nicht vor dem 27. September.“ „Vor der Bundestagswahl tut sich hier nichts mehr.“ „Sie wissen doch, nichts bis zur Wahl, danach kann ich mich dazu äußern.“ Ob in den Parteien, dem Parlament oder in der Landesregierung, die bevorstehende Bundestagswahl hat die Streitkultur in Berlin nun restlos zum Erliegen gebracht. „Unser Auftrag ist es, die Koalition bis zum Ende der Legislaturperiode zu führen und zusammenzuhalten“, erklärt CDU-Fraktionschef Klaus-Rüdiger Landowsky die Zurückhaltung der beiden großen Parteien. „Wir wollen uns jetzt nicht an kontroversen Themen reiben.“

Nicht nur zwischen CDU und SPD herrscht kalter Frieden. Auch zwischen Berlin und Bonn wird bis zum 27. September nichts mehr ausgehandelt. Zum Beispiel in Sachen Olympiastadion. Obwohl die Bundesregierung und der Deutsche Fußballbund die Hoffnung auf eine Fußballweltmeisterschaft 2006 in der Bundesrepublik alles andere als begraben haben, droht das historische Stadion im Berliner Westend zur Ruine zu verfallen. Aus Berlin gibt es zwar schon Sanierungskonzepte, aber die Finanzierung funktioniert nur mit dem Bund. Dasselbe gilt für die ungeklärte Hauptstadtkulturförderung und den Palast der Republik – die Finanzierung ist von Bonn abhängig. „Bei der Berliner CDU tut sich da gar nichts mehr“, heißt es bei der SPD. Das Klima zwischen der Parteizentrale in Bonn und der Berliner Union gilt gemeinhin als nicht besonders freundschaftlich. „Aber jetzt wartet Diepgen darauf, alles Gerhard Schröder vor die Füße zu kippen.“