Stadt im Fluß

■ „Kiek mol“ zeigt soziale, bauliche und wirtschaftliche Veränderungen Hamburgs

Zum literarischen Spaziergang auf den Spuren Wolfgang Borcherts durch Eppendorf kommen schon mal 120 Leute, und genauso viele Neugierige wollen den Tunnel der stillgelegten Altonaer Hafenbahn erkunden. „Manchmal mußten wir schon Leute wegschicken“, seufzt Brigitte Abramowski vom Stadtteilarchiv Ottensen, und der Kollege aus Eppendorf nickt. Unbegrenzt viele Leser wünschen sich die beiden für das Buch Kiek mol, in dem die Highlights der 89 Rundgänge von 14 Hamburger Geschichtswerkstätten nachzulesen sind. Wer genau hinschaut, kann damit auch scheinbar geschichtslosen Stadtteilen wie Dulsberg oder Hamm eine gewisse Sehenswürdigkeit abgewinnen.

Hier wie auch in Barmbek stößt der Leser immer wieder auf Fritz Schumacher, der als Oberbaudirektor von 1909 bis 1933 das Stadtbild nachhaltig prägte und den roten Backstein liebte. Die Stadtteilhistoriker hingegen lieben vor allem alte Fotos: Mehr als 500 historische Bilder wurden eingearbeitet, leider oft in Briefmarkengröße. Dennoch sind sie unverzichtbar für Entdeckungstouren auf eigene Faust. Die Rundgänge beschäftigen sich häufig mit verschwundenen Gebäuden und Anlagen. Besonders gilt das für Orte jüdischer Geschichte. Wer kann sich anhand einer Gedenktafel die imposante Synagoge am Bornplatz vorstellen? Hier helfen alte Fotos aus dem Grindelviertel der Phantasie auf die Sprünge. Gegenüber dem Kiek mol-Buch von 1992 wurde das Angebot zum jüdischen Leben in Hamburg allerdings ausgedünnt. Jens Michelsen, der das Buch betreut hat, erklärt sich die Entwicklung mit dem Verlust spezialisierter StadtführerInnen. Im Trend liegen aktuelle Themen der Stadtentwicklung und Kunstgeschichte. Die Rundgänge führen erstmals auch in die Jarrestadt und nach Winterhude. Letzteres wird zu Wasser von den typischen Kanälen aus erkundet. Bei aller Vielfalt des Angebots gibt es auch weiße Flecken: Harburg und Wandsbek etwa.

Den Geschichtsinitiativen stehen schmerzhafte Kürzungen der Fördermittel ins Haus. Kiek mol ist ein handliches Ergebnis ihrer Arbeit und unterstreicht ihre Existenzberechtigung. Alltags-, Wirtschafts- und Umweltgeschichte wird hier mit Detailkenntnis vor Ort sichtbar gemacht.

Anke Pieper