"Ganz schnell rutscht dir die Realität weg"

■ Der Westberliner Matthias Lilienthal hat die Ostberliner Volksbühne miterfunden: als Ort für Popkultur, Avantgarde und Studentenstreik. Jetzt wird er seinen Intendanten Frank Castorf und den Ros

taz: Man konnte lesen, daß Sie die Volksbühne und damit auch Frank Castorf verlassen, weil er anfängt, Geschichten zu erzählen, während Sie weiterhin „als Berufsjugendlicher jeder Mode hinterherrennen“ wollen. Ist das so?

Matthias Lilienthal: Nein, das war eher selbstironisch gemeint. Ästhetische Differenzen haben wir schon immer gehabt. Zu Anfang dieser Spielzeit beispielsweise habe ich mit Christoph Marthaler die bürgerliche Produktion „Drei Schwestern“ gemacht, während sich Frank Castorf in den „Webern“ mit der Setzung „Unger“ statt „Hunger“ unter anderem über die kleinbürgerliche Sehnsucht nach Mallorca lustig gemacht hat. Damals haben wir ebenfalls gegeneinander polemisiert, und zwar mit anderen Vorzeichen. Und nachdem er Sartres „Schmutzige Hände“ gemacht hat, finden wir uns beide auf der je anderen Seite der Barrikade wieder. Das ist ein luzides Spiel, das Frank Castorf und ich spielen, seit wir uns kennen.

Warum also jetzt der Absprung? Sie haben sich die heutige Volksbühne mit ausgedacht und hatten als Dramaturg in Basel Frank Castorf sogar schon vor dem Fall der Mauer in die Schweiz geholt. Was vertreibt Sie jetzt?

Es ist so etwas wie ein biographischer Bruch. Eine Lust, bevor man vierzig geworden ist, wieder etwas Neues auszuprobieren. Nach sieben Jahren sind bestimmte Sachen einfach ausgereizt. Ich habe nur ein bestimmtes Repertoire, das ich an einem Theater durchprobieren kann, und jetzt muß ich die eigene Routine wieder durcheinanderbringen. Hinzu kommt, daß ich die letzte Spielzeit für die beste der Intendanz Castorf halte.

Das Volksbühnentheater ist also nicht mehr zu toppen?

Das will ich nicht so sagen. Ich gehe davon aus, daß die nächste Spielzeit auch sehr gut wird.

Konservativer?

Unsinn. Diese eher erzählerische Ästhetik, die Frank Castorf für den speziellen Stoff der „Schmutzigen Hände“ entwickelt hat, ist nicht sein Programm für die nächsten Jahre. So redet der Kollege zwar im Moment, aber nach den „Webern“ hatte er auch verkündet, jetzt nur noch aggressiv politisches Theater zu machen. Das einzig Beständige, was ich an Castorf kenne, ist der Wechsel.

Ein Blick zurück. Sie arbeiten an einem Theater, das ganz auf Ost-Identität setzt, stammen selbst aber aus dem Westen und wohnen in Charlottenburg. Im Theater über Westberliner Zahnärzte schimpfen und dann zum Schlafen an den Savignyplatz zurückfahren – was ist das für eine Art von Anverwandlung?

Ich habe im November 1991 hier angefangen und war der einzige Westler. Da fühlte ich mich natürlich einsam. Es war ja eine merkwürdige Welt ohne Ausländer, es gab nur DDR-Bürger. Durch die Interimsintendanzen war das Haus auch ziemlich runtergewirtschaftet, die Volksbühne war aus dem Publikumsinteresse völlig rausgefallen. Und es begann buchstäblich ein Kampf ums Überleben. Ganz am Anfang waren wir bereit, es als Erfolg anzusehen, wenn wir die Platzausnutzung von fünfzehn auf achtzehn Prozent steigern würden. Das allerdings trauten wir uns schon zu.

Und dann starteten Sie mit dem aggressiven Ost-Programm durch.

Es gab nichts zu verlieren. Da war kein Publikum, das man hätte vertreiben können. Die Polemik gegen Westberliner Zahnärzte war ja angeschafft, weswegen auch ich mich nicht damit identifizieren muß. Die saßen im Deutschen Theater, aber nicht in der Volksbühne. Auf die haben wir nur eingehauen, um den anderen zu zeigen, daß wir sie wollen. Und damit sie auch kommen konnten, haben wir diese extrem niedrigen Eintrittspreise beim Senat durchgesetzt. Mit der Stückauswahl haben wir zu Anfang auch nicht unbedingt auf Ost-Identität gesetzt, höchstens mit Veranstaltungen zu solchen Daten wie dem Staatsgründungstag am 7. Oktober oder dem in der Geschichte mehrfach besetzten 9. November. Aber in der Art, wie Themen bei uns verhandelt wurden, haben wir es über die Jahre immer wieder geschafft, einen ostdeutschen Blick auf Wirklichkeit zu formulieren.

Wird der denn jetzt noch gebraucht?

Die soziale Benachteiligung Ostdeutscher existiert nach wie vor. Berlin ist ein Sonderfall und der schwäbische Zahnarzt im Prenzlauer Berg schon das Übliche. Aber auch hier gibt es herbe Unterschiede zwischen Marzahn und Kreuzberg.

Leute aus Marzahn kommen aber nicht in die Volksbühne.

Doch. Zu „Rosa Luxemburg“ von Kresnik kamen haufenweise Schulklassen aus Marzahn. Obwohl es in der Leitung dieses Hauses vielleicht als einzigem Theater eine Symbiose zwischen Ost und West gibt, mit zusätzlich dieser Schweizer Clique um Marthaler zwischen den Fronten, funktioniert die Volksbühne nach wie vor eindeutig als Theater, das die elementaren Probleme des Lebens im Osten thematisiert.

Es ist also nicht so, daß Sie mit Wochenendveranstaltungen wie den „Müllfestspielen“ von Schlingensief oder dem Technokongreß „Jugendmusikfestspiele“ versuchen, eine neue Bestimmung als popkulturelle Stadthalle zu finden?

Die thematischen Wochenenden sind als Ergänzung der laufenden Arbeit entstanden. Nach Christoph Schlingensiefs Inszenierung „100 Jahre CDU“ fiel uns auf, daß Kritiker und ein Teil des Publikums so tun, als ob diese Ästhetik keine Tradition hätte. Und wir beschlossen, vor Schlingensiefs nächster Premiere, „Rocky Dutschke“, ein Wochenende zur Trash-Kultur zu machen, damit man das besser versteht. Dadurch zogen wir ein Publikum an, das sich sonst eher im Technobereich oder im Kino rumtrieb und das zwar mit nachinszenierten Stücken nichts anfangen kann, durchaus aber begann, sich für den merkwürdigen Kitzel der Avantgarde zu interessieren.

Andere Wochenenden machten wir, um Fragen nachzugehen, die uns selbst interessierten. Und von denen wir annahmen, daß sie auch noch ein paar Leute ins Theater ziehen. In Berlin sind die gesellschaftlichen Strukturen seit der Wende ja völlig durcheinander. Es gibt kein normales Bürgertum, aber was es im Übermaß gibt, ist studentische Subkultur, aus der wir auch selber kommen. Mit den Jugendmusikfestspielen beispielsweise wollten wir für uns herausfinden, was das ist: Clubkultur. Wir sitzen doch im Theater, arbeiten wie die Idioten, und ganz schnell passiert es, daß die Realität wegrutscht. Ich finde es absurd, daß sich viele Theatermacher gegen jüngere Generationen abschotten. Ob das in Berlin, Basel, Hamburg oder Chemnitz ist: Im Theater hast du die Verpflichtung, junge Leute ranzuholen, und dazu mußt du wissen, was sie lesen, welche Musik sie hören und was sie über die Welt denken. Da ist nach fünf Jahren schon alles anders.

Aber haben Sie denn wirklich die Hoffnung, die Raver dann auch in die „Drei Schwestern“ lotsen zu können?

Das ist mir erst einmal egal. Es ist vor allem die Hoffnung, innerhalb des Hauses eine Öffnung zu bewirken. Wenn die Bühne zum Dancefloor wird, bedeutet das für das Ensemble und die Techniker etwas. Und wenn wie bei den Jugendmusikfestspielen zweihundert Leute hier in der Volksbühne werkeln und diesen Ort für sich beanspruchen, dann werden einige davon auch in einer der nächsten Premieren auftauchen. Das ist so.

Wir kriegen dieses Schweinegeld von 26 Millionen Mark im Jahr, damit wir Leute in dieser Stadt für unsere Arbeit interessieren und denen das Gefühl geben, daß das ein Ort für sie ist. Auch wenn Studenten nach dem Streik das Bedürfnis haben, etwas zu machen, und zu uns kommen, dann denken wir vielleicht erst: Na, ob die das können –, aber das hat uns völlig egal zu sein. Wenn Studenten auf unsere Bühne wollen, dann räumen wir die eben frei.

Entsteht da nicht ein Leistungsdruck, immer basisnah und authentisch zu bleiben?

Unter diesem Druck steht jeder, der eine Arbeit machen will, die ihn selbst interessiert. Interview: Petra Kohse