Wenn Witte kommt

Über das schwere Schicksal von Untermieterinnen, von denen der Vermieter nichts weiß  ■ Von Heike Haarhoff

Als meine Mitbewohnerin Tanja (alle Namen geändert) mich mit einem Anflug von Hysterie in der Stimme fragte, ob ich „zufällig“ einen Herrenmantel, Rasierpinsel oder Aftershave besitze, ahnte ich, daß irgendetwas ganz schief zu laufen drohte. Bevor ich nachfragen konnte, zog sie mich in die Küche, wuchtete die Cognac-Flasche auf den Tisch und hauchte: „Witte hat geschrieben.“ Darauf einen Schluck. Ich verstand. Wenn Witte, unser Vermieter, sich meldete, hieß das nichts Gutes.

Das Problem war, daß Tanja und ich zwar Witte haßten – weil er gern und oft die Miete erhöhte, weil er Elektroleitungen erst reparierte, nachdem ein Kurzschluß unseren Staubsauger erledigt hatte, weil er die Rechnungen des Kammerjägers stets mit Ignoranz quittierte – doch Witte wußte nichts von unserer Existenz. Jedenfalls nicht in seiner Wohnung. Die wähnte er seit zehn Jahren von den längst anderweitig liierten Verlobten Paul und Ines bewohnt.

Paul und Ines hatten den Mietvertrag nie gekündigt, obwohl beide vor mindestens acht Jahren verkracht aus Wittes Wohnung ausgezogen waren. Seitdem hausten wechselnde Bekannte von Paul und Ines „zur Untermiete“ in dem Altbau mit Holzfußboden und Stuckdecken. Jetzt eben Tanja und ich. Jeder von uns hätte die Übernahme des Mietvertrags und die damit verbundene saftige Mieterhöhung das finanzielle Genick gebrochen. Lieber blieben wir illegal.

„Sie können jederzeit fristlos rausfliegen. Wenn der Hauptmieter nicht mehr in der Wohnung lebt, haben Sie als Untermieterinnen keine Rechte“, warnte unser Anwalt. Aber wie sollte Witte etwas merken, feixten wir.

Bis der Brief kam. Von einer mysteriösen „Wohnungsbegehung“ war da die Rede, und zwar am „kommenden Donnerstag“. Bis dahin waren es noch drei Tage. „Entweder er will die Wohnung verkaufen, oder er hat Wind davon bekommen, daß wir hier wohnen“, fürchtete Tanja. In beiden Fällen war klar: Witte würde uns rausschmeißen. Es sei denn, wir könnten ihn austricksen. Daher der Herrenmantel, der Rasierpinsel und das After-shave. Ich schluckte. Tanja wollte Wittes Schnüffler doch tatsächlich das traute Glück eines Hetero-Pärchens vorgaukeln.

Am besten sei, schlug sie vor, „du würdest deine Matratze auf dem Dachboden verstecken“. Ich sah mich unter 1,40 mal 2,00 Metern Latex zusammenbrechen. „Es gibt durchaus Paare, die getrennte Betten haben“, klärte ich sie auf.

Bei der restlichen Möbelrückerei allerdings konnte ich mich nicht durchsetzen. „Du hast nicht mal einen Kleiderschrank“, fauchte Tanja, „wie willst du ihm verkaufen, daß du schon seit zehn Jahren hier wohnst?“ Also hievten wir ihre häßliche Eichenkommode in mein Zimmer. Auch bestand Tanja auf ein Motorrad-Poster: „Männer hängen sich sowas auf.“

Die Tage bis Donnerstag verliefen quälend. Bei jedem Anruf meldete sich Tanja mit einem scheuen „bei Paul Mayer“. Alle unsere Bekannten lachten uns aus. Als meine Mutter Wind von der Sache bekam, forderte sie unseren sofortigen freiwilligen Auszug: „Ihr macht euch doch strafbar, Kinder.“

Die Frage mit den Accessoires blieb derweil ungeklärt. Ich rief verschiedene Freunde an. Doch kurz vor der Frage „Würdest du mir wohl deinen Rasierpinsel leihen?“ stockte mir jedesmal vor lauter Peinlichkeit der Atem. Und der einzige Mann, bei dem ich mich vielleicht getraut hätte, trug damals einen Bart.

Tanja schließlich hatte die rettende Idee: Unser schwules Nachbarpärchen! Aftershave, Rasiermousse und Haargel zogen kistenweise in unsere Wohnung ein. Dann kam der Donnerstag. Früh morgens und ohne Frühstück schlich ich mich wie eine Diebin aus dem Haus. Tanja blieb da und würde Ines heißen, wenn Wittes Abgesandter kam.

Ein paar Stunden später rief sie mich an. „Uuund?“, fragte ich nervös, auf alles gefaßt. Tanjas Stimme überschlug sich vor Wut. „Alles umsonst“, rief sie. „Nichts hat er angeguckt, nicht mal ins Bad wollte er, dabei habe ich es ihm mehrmals angeboten.“ Statt dessen verkündete er Unglaubliches: Unsere klapprigen Fenster würden ausgetauscht, er müsse Maß nehmen.

Tanja und ich sind wenige Monate später, wenn auch aus anderen Gründen, ausgezogen. Paul und Ines haben die Wohnung legal gekündigt. Nur die Fenster, das stelle ich bei jedem Vorbeikommen fest, sind nach all den Jahren immer noch die alten.