Der treue Schatten des guten Redners

Redner brauchen Redenschreiber. Aber kaum ein Politiker redet gern darüber. Gestern stellte der Ex-Redenschreiber von Helmut Schmidt einen neuen Verband vor, der den Ghostwritern zu Ansehen und Aufträgen verhelfen soll  ■ Aus Bonn Christian Esser

Unbarmherzig verfolgt die Fernsehkamera den Redner im Bundestag. Sie beginnt am Kopf, fährt über den Anzug, hält bei den auf dem Pult ruhenden Händen inne und richtet sich dann entschlossen auf die Füße. Ha! Hier zeigt's sich: Der rechte Fuß, sich unbeobachtet wähnend, tänzelt, dreht und windet sich wie stellvertretend für die ganze gepeinigte Kreatur. Der Fuß legt es bloß: Der Abgeordnete ist nervös. Das Plenum, die Minister, die Besucher auf der Tribüne, alle sehen ihn an. Schafft er's? Bringt er seine Botschaft rüber?

Damit die Rede nicht zum Handikap für die Karriere wird, beschäftigen die Volksvertreter rund 150 Redenschreiber. Und weil die oft überlastet sind, beauftragen Bundes- und Landespolitker zusätzlich die Mitarbeiter der Bonner Rednerschule. Im Wahlkampf sind Schulleiter Peter H. Ditko (53) und seine Kollegen besonders gefragt.

Neuerdings können sich Abgeordnete auch an den „Verband der Redenschreiber deutscher Sprache (VdRS) wenden, der am 18. Juli gegründet und gestern in Bonn vorgestellt wurde. Der VdRS versteht sich als Berufsorganisation der Redenschreiber, die, so ihr Gründer Thilo von Trotha, „oft ein sehr isoliertes Leben führen“. Indem Angebot und Nachfrage professionell zusammengeführt werden, sollen Tausende neue Arbeitsplätze entstehen. Der Verband hat sich außerdem das Ziel gesetzt, die Redekultur im deutschsprachigen Raum zu verbessern. Deshalb, schlug von Trotha gestern vor, sollen „Debating Rooms“, „Debating Clubs“, und „Speaker Corners“ eingerichtet werden.

Während sich der VdRS erst noch beweisen muß, hat die Bonner Rednerschule unter Peter H. Ditko schon seit 1978 Erfahrungen gesammelt. Jährlich werden etwa 60 Abgeordnete durch Ditkos Kurse geschleust, „vom Hinterbänkler bis zum Minister“. Namen nennt der studierte Volkswirt nicht: „Welcher Politiker würde schon zugeben, auf dem Sektor der Rede Nachhilfe erhalten zu haben?“ Von seinen „Kunden“ kommen mehr aus den Oppositionsparteien als aus der Regierungskoalition. „Die Opposition muß mehr reden, während die Regierung handelt“, meint Ditko lachend. Ein Unterrichtsnachmittag kostet um die 1.000 Mark. Ein Kurs mit Sitzungen im Drei-Wochen- Rhythmus dauert zumeist ein halbes Jahr. Wer es exklusiv haben möchte, kann an seiner Redetechnik auf einem Motorsegler in der Ägäis feilen, für gut 3.000 Mark die Woche. Nach Ditkos Auskunft begleichen die Abgeordneten die Rechnung für die Behebung ihrer Rededefizite aus eigener Tasche. Für Minister oder Staatssekretäre indes zahlt die Bundeskasse.

Was macht nun einen guten Redner, eine gute Rednerin aus? Ausgeprägte Körpersprache, bilderreiche Sprache, Humor, lebendige Mimik und gezielte Gestik, Verständlichkeit, klarer Satzbau, Logik und ein schlagfertiger Umgang mit Zwischenrufen – fertig ist der Bilderbuchredner. Der Paradefehler aus Ditkos Sicht: „Die Sprecher wollen zuviel in zu kurzer Zeit sagen.“ Obendrein fehlten oft die Dramaturgie und Souveränität im Vortrag.

Der liebste Redner des Meisters stammt aus den neuen Ländern: „Gregor Gysi ginge glatt als Lehrer durch“, sagt er. Mit Parolen wie „Früher wurdste unterdrückt, heute wirste beschissen“ bringe Gysi das Gefühl seiner Klientel auf den Punkt. Auch Joschka Fischer gelte in Bonn als rhetorisches Talent. Vorbei die Zeiten, in denen seine Emotionen noch unkontrolliert mit ihm durchgingen: „Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch.“ Wer im Bundestag vom Blatt lese, forderte Fischer schon vor Jahren, solle das Rederecht verlieren – da ging ein angstvolles Zucken nicht nur durch die Hinterbänke.

Schlimm sei es um Politiker bestellt, so Ditko, denen es nicht gelinge, die Interpunktion mitzusprechen. Ein Meister der Interpunktion sei Oskar Lafontaine. Durch eine rhythmische, begeisternde Rede stieß der SPD-Chef seinen sprachlich biederen Vorgänger Rudolf Scharping auf dem Mannheimer Parteitag vom Sockel. „Wir fangen neu an, Freunde“, beschwor er die 500 Genossen, „zieht euch warm an, wir kommen wieder.“ Diese Lafontaine-Rede ist für den Sprechlehrer Ditko ein Paradebeispiel dafür, Erfolg herbeizureden. Helmut Kohl hingegen sei dann ein Wortkünstler, wenn es um Appelle an das Gemeinschaftsgefühl gehe. So unterstreiche der Kanzler die Ankündigung neuer Finanzopfer gern durch ein „Wir“, wenn es darum gehe, „den Gürtel enger zu schnallen“. Ansonsten „reißt der Kanzler mit seinen abgelesenen Reden niemanden vom Stuhl“, kritisiert Ditko.

Die quälende Langweiligkeit abgelesener Reden war übrigens schon vor fast hundert Jahren ein Thema: „Den Mitgliedern des Reichstags ist das Vorlesen schriftlich abgefaßter Reden nur dann gestattet, wenn sie der deutschen Sprache nicht mächtig sind.“ Dieses Reichstagsrecht von 1903 gilt im Prinzip im Bundestag noch immer. So steht in der Geschäftsordnung: „Die Redner sprechen grundsätzlich im freien Vortrag.“ Sie können allerdings „Aufzeichnungen benutzen“. Die Ausnahme ist jedoch zur Regel geworden: Kaum ein Redner spricht frei.

1967 forderte der damalige Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier, daß „alle Mitglieder des Hohen Hauses frei sprechen“ sollten. Schriftliche Reden sollten nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Präsidenten vorgetragen werden. Wer dennoch vorlas, sollte nach einmaliger Ermahnung das Rederecht verlieren, beantragte Gerstenmaier als „Strafbestimmung“. Der Vorschlag scheiterte. Die meisten Abgeordneten teilten damals Franz Josef Strauß' Meinung: „Man kann bestimmte Fehler vermeiden, man kann sich Techniken aneignen, man kann Stilmittel einüben. Aber das rednerische Urgestein muß wohl in der eigenen Natur liegen.“

Das „Urgestein“ Strauß ging nicht zimperlich um mit seinen Gegnern: „Wenn Sie Malermeister wären und eine Kirchenuhr streichen müßten, würde Ihnen der Stundenzeiger den Pinsel aus der Hand schlagen“, fuhr er in einer Bundestagsdebatte Willy Brandt an. Brandt selbst wiederum habe als großer Redner beeindruckt, schwärmt der Leiter der Bonner Rednerschule, weil „der Mann von Manuskripten ablesen konnte, als rede er frei“. Helmut Schmidt dagegen „war technisch perfekt. Er hatte stets ein Manuskript dabei, obwohl er seine Reden zum Teil auswendig gelernt hatte.“ Besonders Schmidts Selbstironie sei gefürchtet gewesen, erinnert sich Ditko: „Helmut Schmidt steht das Wasser bis zum Hals. Doch seine Gegner wissen aus der Vergangenheit: Bei Flut ist er erst richtig gut.“

Da werde sich Gerhard Schröder anstrengen müssen, dem letzten sozialdemokratischen Kanzler das Wasser zu reichen. Schröders Rede beim Parteitag in Hannover fand Ditko ein wenig diffus. In der Zeitschrift Rede und Karriere gab Schröder zu: „Was ich persönlich noch lernen muß, ist, einen geschriebenen Text genau so vorzutragen wie eine freie Rede“; denn „bei jeder abgelesenen Rede geht Spontaneität verloren“. Nach eigenen Angaben beschäftigt der Kandidat keinen Redenschreiber, „der mir eine Latte von Gags aufschreibt, die ich dann einbaue“.

Damit spielt Schröder auch auf Ditkos Kollegen Thilo von Trotha an, der mit seinem gestern vorgestellten Verband seinem Berufsstand nicht nur mehr Aufträge, sondern vor allem ein besseres Ansehen verschaffen will. „Viele Leute sind überrascht, wenn sie hören, daß der Außenminister seine Reden nicht selber schreibt. Deshalb wird die Arbeit des Redenschreibers bei uns zu Unrecht geheimgehalten“, sagt Trotha.

Thilo von Trotha, der ehemalige Redenschreiber von Helmut Schmidt, hat in seinem Metier Erfahrungen wie kaum ein anderer in Deutschland. Vor sieben Jahren gründete er die „Akademie für Redenschreiben“, in der Führungskräfte nahezu aller großen deutschen Unternehmen geschult worden sind. Zudem betreibt der Sprachprofi die Agentur „Reden und Texte“, die Redemanuskripte für die Großen und Kleineren aus der Wirtschaft zu beruflichen wie privaten Anlässen liefert. Von Trotha ist überzeugt, daß die Nachfrage nach Redenschreibern steigen wird. „Bisher wußte niemand so recht, wohin er sich mit dem Wunsch einer Redenvorbereitung wenden sollte.“

Die Ansicht, wonach ein Schreiber den Redner manipuliere, hält er für einen Irrtum: Vielmehr mache sich der Redner den Vorschlag des Redenschreibers zu eigen, indem er den Entwurf ganz oder in Teilen akzeptiere oder verwerfe. „In den USA“, erzählt Trotha, „genießen Redenschreiber einen besseren Ruf. Sie heißen dort nicht ,Ghostwriter‘, sondern je nach Talent ,Gagman‘ oder ,Speechwriter‘.“ John F. Kennedy habe in seinem Wahlkampf „ein ganzes Team“ von Schreibern beschäftigt. Und auch seine legendären Worte „Ich bin ein Berliner“ habe ein „Gagman“ geschrieben.

50.000 Arbeitsplätze könnten nach Meinung Trothas in den nächsten zehn Jahren in dieser Sparte geschaffen werden. Durch Ausbildung und Zertifizierung will er mit seiner eigenen Agentur „Rent A Ghost“ den Einstieg in den neuen Berufsstand einleiten. Bei „Rent A Ghost“, das wie eine Börse Redenschreiber an Kundschaft aus Wirtschaft und Politk vermitteln will, engagieren sich neben von Trotha zehn weitere der besten Redenschreiber der Bundesrepublik. Erfahrungen aus Ländern wie den USA, wo rhetorische Fähigkeiten teilweise in der Schule trainiert würden, zeigten, so von Trotha, daß Reden schon in jungen Jahren Karrieren fördern können. Manchmal können Worte aber auch Karrieren beenden. Beispiel: Philipp Jenninger. Er stürzte 1988 als Bundestagspräsident über eine mißlungene Rede zur Reichspogromnacht 1938.

Nirgendwo entscheiden Worte über Anfang oder Ende einer Karriere derart wie in der Politik. Die Kurzanleitung von Martin Luther gilt noch heute: „Tritt frisch auf, mach's Maul auf, und hör' rechtzeitig wieder auf!“