„Sterbehilfe“-Urteil: Nicht nur Beifall

Die meisten Interessenverbände loben das Oberlandesgericht Frankfurt, Angehörige von Wachkoma-PatientInnen und einzelne Bundestagsabgeordnete sehen jedoch Rechtsbruch  ■ Aus Frankfurt/Main Klaus-Peter Görlitzer

Strafgesetzbuch und Bürgerliches Gesetzbuch sind tot, es lebe das Oberlandesgericht Frankfurt am Main und seine kreative Interpretation deutscher Gesetze! Mit dieser Formel lassen sich die Reaktionen der meisten Interessenverbände auf den Punkt bringen, die den spektakulären „Sterbehilfe“- Beschluß des 20. Zivilsenats des OLG Frankfurt kommentierten.

Ob Bundesärztekammer, Evangelische Kirche, Deutsche Hospitz Stiftung oder Gesellschaft für Humanes Sterben – fast alle Interessenverbände, die Zugang zur Medienöffentlichkeit haben, begrüßten übereinstimmend den Gerichtsbeschluß, weil er den PatientInnen mehr Selbstbestimmung bringe: Wer im Koma lebt, sollte künftig durch Entzug der Sonderernährung binnen zwei bis drei Wochen verhungern dürfen. Voraussetzung ist, daß sein Betreuer erklärt, der Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen entspreche dem „mutmaßlichen Willen“ des Erkrankten, und ein Vormundschaftsgericht die todbringende Unterlassung genehmigt.

Scharfe Kritik kommt jedoch von Angehörigen der Wachkoma- PatientInnen und aus dem Bundestag: Die bündnisgrüne Gesundheitspolitikerin Monika Knoche verwahrt sich gegen eine „schleichende Aufweichung des Tötungsverbotes“ durch Gerichtsentscheidungen, und der CDU-Politiker Hubert Hüppe vertritt die Ansicht: „Es widerspricht Grundgesetz und Bürgerlichem Gesetzbuch, daß künftig Betreuer, Ärzte und Richter darüber entscheiden sollen, ob Wachkoma-Patienten, die ihnen anvertraut sind, leben oder sterben sollen.“ Auch der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Lehmann befürchtet, daß es zu einem Dammbruch in der Sterbehilfe komme. Bundesjustizminister Schmidt-Jortzig (FDP) stimmte ebenfalls kritische Töne an: „Für mich kann es nie in Frage kommen, daß der Staat in irgendeiner Form die Hand zur Tötung von Menschen reicht.“

Tatsächlich herrscht unter JuristInnen keine Einigkeit: Während das OLG Frankfurt behauptet, es gebe eine „Gesetzeslücke“, die den Behandlungsabbruch rechtfertige, hatten die beiden Vorinstanzen, das Amtsgericht und das Landgericht in Frankfurt, festgestellt, der Wortlaut des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) lasse es nicht zu, eine vormundschaftsgerichtliche Genehmigung in lebensbeendenden Maßnahmen zu erteilen.

Entsetzen hat der OLG-Beschluß beim Selbsthilfeverband der „Schädel-Hirnpatienten in Not“ ausgelöst. „Wachkoma-Patienten verhungern zu lassen, das ist Mord“, sagt der Vorsitzende Armin Nentwig und verweist auf die durch wissenschaftliche Studien belegte Tatsache, „daß Medizin und Hirnforschung derzeit noch keine konkreten Prognosen“ für Koma-PatientInnen abgeben könnten. Vor diesem Hintergrund fragt Nentwig: „Wer zieht künftig die Altersgrenze bei der Chance auf Leben, und wer will über die Zeitgrenze bei einem Rehabilitationsversuch bestimmen?“ Die Erfahrung seines Verbandes lehre jedenfalls, daß „mehr als die Hälfte der betroffenen Koma-PatientInnen oft noch nach Monaten und Jahren in Schule, Beruf und Familie wieder eingegliedert werden“.

Nentwigs Vorstandskollege Walter Ulmer, dessen Frau seit Jahren im Koma lebt, hofft, daß die Repräsentanten der Bundesärztekammer noch einmal nachdenken und die Position des Frankfurter OLG nicht in ihre geplante Sterbebegleitungsrichtlinie übernehmen. Ullmers Vertrauen gründet sich auf die mutmaßliche Standfestigkeit des Vizepräsidenten der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe. Zwar hat Ärztefunktionär Hoppe den Beschluß des Frankfurter Oberlandesgerichtes am Montag spontan als Beitrag zu „mehr Klarheit für MedizinerInnen und PatientInnen“ begrüßt. Doch seit 1995 hat Hoppe auch wiederholt öffentlich zugesichert, mit ihm werde die Ärztekammer kein Papier beschließen, das den tödlichen Behandlungsabbruch bei Menschen billige, die überhaupt nicht im Sterben liegen.

Zudem hat der Kammervize mehrfach darauf hingewiesen, daß gerichtliche Einzelfallentscheidungen zur Sterbehilfe dramatische gesellschaftspolitische Folgen zeitigen könnten. Bald würden die Euthanasie-Forderungen auch auf weitere Patientengruppen ausgeweitet: Kranke mit fortgeschrittener Alzheimer-Demenz oder Schwerstbehinderte.