: Hauch von Ewigkeit
Andacht und Ekstase: Cassandra Wilson und ihr umjubeltes Konzert beim WestPort ■ Von Christian Buß
Wer singt, erinnert sich, und wer sich erinnert, ist niemals allein, und wenn Cassandra Wilson singt, dann stehen sie alle im Raum: Billie Holiday und Robert Johnson. Und natürlich: Miles, Miles, Miles. Die Stimme als Register des Gedächtnisses wird von niemandem konsequenter eingesetzt, Auftritte von Cassandra Wilson sind im Wortsinne oral history. Es gibt zur Zeit kaum eine andere Sängerin, die all den schönen sperrigen Kram aus 100 und noch viel mehr Jahren schwarzer Musik so aktuell klingen läßt – oder die, auch das kann schon mal passieren, eher mäßigen Pop-Standards klassische Weihen verpaßt. Mag man auch an der Veranstaltung namens WestPort seine Zweifel haben, allein ihr Auftritt rechtfertigt die Existenz des Festivals. Da toppt Cassandra Wilson noch einmal ihr legendäres Konzert Anfang der Neunziger auf Kampnagel.
Das Schöne an der Künstlerin: Spiritualität ist bei ihr keine Sache des Spektakels. Sie kommt nicht auf die Bühne, um zu predigen. Sie kommt auch nicht auf die Bühne, um zu performen. Sie steht da oben, weil da oben eben immer auch das Mikro steht. Und in den richtigen Momenten tritt sie zurück, um sich in die Musik ihrer Band zu legen. Eben wie am Mittwoch vor den Deichtorhallen, wo sie zwar kurz mal den handelsüblichen Schmarrn im Stil von „I've missed you, Hamburg“ verbreitet, ansonsten aber auf Anbiederungen aller Art verzichtet.
Ganz gemächlich geht es los, ihre Band spielt einen bräsigen Blues. Der Beat ist zu hart, die Gitarre sägt, und man fragt sich, was das soll. Aber dann steht auf einmal Cassandra vor dem Mikro, und der Song beginnt zu leuchten. Weil die Improvisation nicht dazu mißbraucht wird, anderer Menschen Songs irgendetwas anzudichten; hier wird einfach nur herausgeholt, was in ihnen schon immer angelegt war. Auch deshalb ist Cassandra Wilson so was wie die, nun ja, größte lebende Jazz-Sängerin. Robert Johnsons schroffes „Come On In My Kitchen“ interpretiert sie unheimlich sanft, und „Seven Steps To Heaven“ von Miles Davis, dem sie mit ihrem demnächst erscheinendem neuen Album Tribut zollt, perlt wie eine Nummer von Talk Talk. Cassandra Wilson verwandelt und verzaubert ihr Material, vergewaltigen tut sie es nicht.
Was natürlich auch an ihren Musikern liegt. Das sind keine Egomanen, aber in den richtigen Momenten neigen sie zur Ekstase. Wie der Pianist Eric Lewis , ein Mann, der es nicht nötig hat, sich in den Vordergrund zu spielen. Der begleitet behutsam, um zum Schluß dem Boogie als atonalem Rausch zu frönen. Das Publikum jubiliert, danach sollte eigentlich nichts mehr drin sein. Außer einer heruntergefahrenen Version von „Time After Time“, das einst von Miles Davis für den Jazz geadelt wurde. Und hier bekommen noch einmal all die Recht, die die Trompete für das der Stimme am nahestehendste Instrument halten. Die Kunst der Cassandra ist wie die von Miles: ein Hauch von Ewigkeit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen