Das Leben ist keine Baustelle

■ Die Brache am Potsdamer Platz in Berlin ist Kulisse für eine Dreiecksgeschichte aus rohen, fast dokumentarischen Bildern: Eoin Moores "plus minus null" eröffnet die neue Filmreihe "Momentaufnahme Berlin" (23.

Daß eine Sexszene auch so aussehen kann: Svetlana nestelt an ihren Schuhen, einiges von Alex' Werkzeug liegt noch im Bett, raus damit; umständlich versucht Alex sich seiner Bauarbeiterschuhe und der staubigen Hose zu entledigen, und während sich dann der dünne Alex und die schöne schwarzhaarige Svetlana ungelenk einander nähern, schaukelt unruhig die Kamera zwischen ihnen herum, die jetzt eigentlich hier nichts mehr zu suchen hätte, weil nichts mehr inszeniert scheint an dieser Liebe (falls es Liebe ist). Wie sie nicht wissen, wie sie sich zueinander legen sollen, wie sie ächzen, mehr vor Umständlichkeit als vor Lust, am Ende der ferne, mehrdeutige Blick aus Svetlanas großen Augen: Ist das noch wie die Liebe, wie der Film, also gelogen, oder ist das wie das Leben?

Man weiß es in der nächsten Szene, als die Nutte Ruth, Svetlanas Kollegin, aus einem Freierauto auf ein Stück Potsdamer Platz geworfen wird; man weiß es am nächsten Morgen, als Alex' Chef in dessen Container-Unterkunft eindringt, weil längst Schicht ist. Alex („Alex – wie der Platz“, stellt er sich immer vor) ist einer, dessen Leben so vor sich hintreibt, auf dem Potsdamer Platz in Berlin, dem Ort, wo lange Zeit kein Leben war und wo wahrscheinlich auch kein Leben sein wird, wenn er keine Baustelle mehr ist. Man würde Alex vielleicht einen Loser nennen, aber dazu fehlt der Figur eigentlich das Unglück, das laut Tragische. Er ist einfach einer, der im Container wohnt, auf der Baustelle Schleifmaschinen klaut, ziellos seinen Trabant durch die Stadt lenkt, einer, der lange keinen Sex mehr gehabt hat, seit seine Frau ihn mit der kleinen Susi verließ.

Die Baustelle am Potsdamer Platz, einem Ort ohne Bindungen, wo sich die Verkehrsführung jede Woche ändert, ist die rechte Kulisse für Alex' Leben. In „plus minus null“ ist dieser Platz wie in Wirklichkeit ein Ort für leere Mythen und für Träume, von denen man weiß, daß sie Lügen sind. Gern zeigt Eoin Moore die Baustelle im Abendlicht, wie die Kräne sich majestätisch drehen, der Reichstag, die Sonne, die Dämmerung am Horizont, wo seine Protagonisten hingucken, wenn sie über ihre kleinen Träume reden oder über Alex' Höhenangst. Die Baustelle ist ein Spielzeugland, auf das er von weit oben herunterschaut, als könnte noch was draus werden. „Wie's wohl aussieht, wenn's fertig wird“, überlegt Ruth. „Sehr groß und sehr sauber“, sagt Alex. „Müssen wa uns aber jut anziehen, wenn wir hier inkoofen wollen, sonst lassense uns nich rein, die Ärsche“, sagt Ruth dann in das Flutlicht, das die Nachtschicht bescheint.

Alex' Arbeit auf der Baustelle zeigt der Film nüchtern, voll Unschärfen, wie sie zufällig entstehen, wenn die Kamera nicht schnell genug hinterherkommt. Und so zeigt er auch die Arbeit von Svetlana und Ruth, der beiden Nutten vom Potsdamer Platz, die auf Autos warten, in die sie ihr Angebot sagen können: „Hundertfünfzig, französisch und normal, halbe Stunde.“ Manchmal blendet ein Autoscheinwerfer frontal ins Bild, wie das eben so ist. In vielen Szenen wirkt Eoin Moores Film wie ein Dokumentarfilm: Leben am Potsdamer Platz und manchmal auch die Träume der Nacht, verwischt wie ein Videoclip, über den traurige Musik gelegt ist.

Sicherlich kommt Moores faszinierend unsterile Ästhetik auch daher, daß er als Absolvent der Berliner Film- und Fernsehakademie wenig Geld für seine erste längere TV-Koproduktion hatte. Doch hauptsächlich ist die Rohheit seiner Bilder ein Stilmittel, das der Geschichte eine eigentümlich ungeschliffene Poesie gibt. Eoin Moore hat „plus minus null“ in elf Tagen ohne eigenes Licht, ohne Stativ mit zwei Digitalkameras aus der Hand abgedreht. Sein Drehbuch war kaum mehr als ein Gerüst, Figuren und Geschichte hat er zusammen mit seinen Darstellern entwickelt – ein Film wie eine Baustelle. Es sind dennoch nur ganz wenig Stellen, wo das Gespielte, das Künstliche hervorspielt.

Weil die Liebesgeschichte zwischen Alex, Svetlana und Ruth die tiefe Melancholie des Aussichtslosen hat; weil die stille Dramaturgie der Geschichte eine Melodie gibt; und weil seine drei Hauptdarsteller (Andreas Schmidt, Tamara Simunovic, Kathleen Gallego Zapata) so anrührend spielen, erzeugt Eoin Moore große Filmgefühle mit seinen kleinen, schroffen, digitalisierten Bildern von der lauten Baustelle. Es ist spannend, es ist komisch, hauptsächlich aber ist es traurig: Wenn Svetlana ihren Kopf auf Alex legt und sagt, jetzt seien es nur noch zwei Wochen, dann müsse sie zurück nach Bosnien.

„Der andere Film“ heißt der Freitagsplatz bei 3 sat, und das kann man über „plus minus Null“ wohl sagen. Er ist wie gemacht zur Eröffnung der neuen Filmreihe, in der 3 sat ab heute TV-Erstaufführungen unter dem Titel „Momentaufnahme Berlin“ zeigt.

Am Ende sitzt Alex mit leerem Blick in Svetlanas ausgeräumten Zimmer im Ausländerwohnheim und kaut auf einem Stöckchen, wie er es immer tut. Er wird wieder beim Bau anfangen. Svetlana sitzt in der Bahn. Und auch Ruth ist Nutte geblieben, anstatt ihren Traum vom Imbißwagen zu verwirklichen. Ein paar Erinnerungen mehr, sonst hat sich nichts verändert. Das Leben ist eben doch keine Baustelle. Lutz Meier