Nervosität an der Green Line

Green Line – so heißt die Grenze, die Zypern in zwei Teile zerlegt. 1974 annektierte die Türkei den nördlichen Zipfel der Insel und trennte damit die türkischen Zyprioten vom Gros der griechischen Inselbevölkerung. Eindrücke von einer Demarkationslinie  ■ Von Michael Hollmann

Derynia, eine kleine Anhöhe im Osten Zyperns. Darunter erstreckt sich die riesige Bucht von Famagusta, umrandet von einem gelben Blumenteppich. Gespickt mit roten Tupfern von Klatschmohn und üppig blühenden Sträuchern. Wie farbige Wattebäusche liegen sie auf den Feldern, die in einem leichten Gefälle bis ans türkis glitzernde Meer reichen. Sonnenschein, strahlend blauer Himmel, Ruhe, Abgeschiedenheit. In der Luft ein sanfter, honigsüßer Geruch.

Hier fällt der Eiserne Vorhang, der Zypern in zwei verfeindete Hälften teilt. „Dort drüben bin ich aufgewachsen“, sagt Antonis Katsantonis und zeigt auf eine Hochhausfestung in nordöstlicher Blickrichtung – Varósha, der südliche Vorort des alten Stadtkerns von Famagusta. Seit der türkischen Invasion 1974 ist die einst vor Leben berstende Urlaubsmetropole verwaist. „Früher haben dort 70.000 Menschen gewohnt. Heute ist Varósha eine Geisterstadt.“

Durch das Fernglas erkennt man vergilbte Fassaden früherer Luxushotels, Autowracks, verrostete Baukräne.

Direkt davor – der kaum sichtbare Stacheldraht der Green Line – die Trennlinie zwischen der griechisch geprägten Republik Zypern und dem türkisch kontrollierten Norden, wo die Mehrheit der türkischen Zyprioten lebt. Dann ein kleiner Schwenk mit dem Feldstecher. „Dort werden gerade die türkischen Wachposten abgelöst“, sagt Antonis. An dem winzig anmutenden Wachturm mit den zwei türkisch-zypriotischen Flaggen hat ein Armeegeländewagen gehalten. Kurz darauf setzt sich der Rover in Bewegung, um einen weiteren Punkt kurz vor dem verlassenen Strand anzusteuern.

Etwas näher inmitten verrosteter Windräder taucht ein weiterer Verschlag auf. Auf dem Dach eine weiße Fahne: die Blauhelme der Vereinten Nationen. Schließlich der griechisch-zypriotische Militärposten diesseits der grünen Grenze, halb verdeckt von ein paar Bäumen, rund hundert Meter entfernt. Und natürlich das Haus von Antonis und seiner Frau.

Das Dach ihres Hauses haben die beiden zu einem Aussichtsturm umfunktioniert. Touristen aus den Hotelzentren im Süden finden sich hier ein, um einen Blick über die unauffällige und doch scharf bewachte Schnittstelle der Insel zu werfen.

Ein paar dänische Rentner haben sich an der Balustrade postiert und lugen durch die bereitliegenden Ferngläser in die triste Geisterstadt. Zwei Etagen tiefer ein kleiner Kiosk in einem Garten mit Tischen und Stühlen. Antonis verkauft Getränke, seine Frau Elena bereitet Sandwiches. In taktvollem Englisch begrüßt er die Gäste beim Betreten: „Herzlich willkommen. Werfen Sie vom Aussichtsturm einen Blick auf die andere Seite. Getränke und Sandwiches werden unten serviert.“

An Geschäftserfahrung mangelt es nicht. Als sie noch in Varósha lebten, besaß Antonis zwei Restaurants nahe dem Strand. „Damals dachte ich, daß ich schon mit Vierzig in Rente gehen könnte, so gut lief das Geschäft.“ Der Einmarsch türkischer Truppen im Juli 1974 ließ den Traum platzen. Unerwartet drang das türkische Militär in die Stadt ein und hinterließ eine Ruine im unbesiedelten Grenzstreifen.

Mit ihren drei kleinen Söhnen und allem Tragbarem ergriff die Familie die Flucht. „Von einer Minute auf die andere“, sagt Antonis. In der Hafenstadt Limassol an der Südküste begann der mühsame Neuanfang. Bankkredite halfen über die schlimmste Not hinweg. Schließlich gingen sie nach Ayia Napa, wo der enteignete Geschäftsmann einen lukrativen Posten in einem Hotel antrat.

Heute ist Antonis 58 Jahre alt. Er und seine Frau sind inzwischen pensioniert. Von ihrem Domizil in dem kleinen Grenzort Derynia können sie das Haus erspähen, in dem sie einst wohnten. „Manchmal kitzelt es an den Nerven“, sagt der gebürtige Famaguster und saugt an seiner Pfeife. Die Stadt liegt geradezu „in Spuckweite“, und das macht bisweilen leichtsinnig. Wenn nachts der Mondschein auf die kahlen Gemäuer fällt, schleicht er sich schon mal gefährlich nahe an die Grenzposten heran. Bis ihn die Realität wieder einholt: „Da drüben ist schließlich keine Menschenseele mehr. Nur noch verkümmerte Häusertürme.“

Am Nachbartisch hat eine schottische Familie Platz genommen. Der Vater lehnt sich entspannt zurück, während die zwei Kinder ein Eis schlecken. In dem mannshohen Metallkäfig hinter ihnen zwitschern kleine, bunte Singvogel. Auf dem Boden kauern zwei Schildkröten. Die Kinder springen erstaunt auf, als sie die Tiere bemerken. Antonis schmunzelt im Vorbeigehen und bringt Kuchen und kalte Getränke an den Tisch.

Der Schotte, Schnurrbart, Brille, etwa Vierzig, wischt sich den Schweiß von der Stirn und bedankt sich höflich. „In Großbritannien bekommt man kaum etwas mit von dem Konflikt hier.“ Antonis' Miene wirkt angespannt: „Vor rund anderthalb Jahren wäre an dieser Stelle beinahe wieder Krieg ausgebrochen.“ Das klingt wie ein Vorwurf.

Im August 1996 sorgt ein Zwischenfall an der grünen Grenze international für Schlagzeilen: Ein Motorradkonvoi, begleitet von Hunderten griechischer Zyprioten, versucht bei Derynia, in den türkischen Norden zu gelangen. „Auf beiden Seiten war das Militär verstärkt worden, in der Mitte der Pufferzone eine Kette von Blauhelmen“, erinnert sich der Augenzeuge. Sein schottischer Gast horcht interessiert und schüttelt dann und wann verblüfft den Kopf. Einer Gruppe von Demonstranten gelingt es, durch die Sicherheitskette zu stürmen. Beim Zusammenstoß mit türkischen Soldaten und Extremisten der Grauen Wölfe kommt einer von ihnen ums Leben.

Einige Tage später dann der Vergeltungsschlag. Dieses Mal eröffnen türkische Grenzposten das Feuer: wieder ein Toter unter den griechischen Zyprioten, viele Verletzte. „Alle Anwohner sollten die Häuser verlassen. Meine Frau und ich blieben – auf eigenes Risiko.“ Antonis hat die Zeitungsausschnitte sorgfältig gesammelt und in einem Schaukasten am Eingang des kleinen Ausflugscafés befestigt. Daneben ein Stapel Broschüren, herausgegeben von der Kulturstiftung der zypriotischen Nationalbank: „Schluß mit der türkischen Besatzung!“

Der passionierte Raucher kratzt die Asche aus seiner Pfeife. „Einige Gäste haben nach der Heimkehr an ihre Abgeordneten appelliert, den internationalen Druck auf die Türkei zu verstärken. Das freut mich schon.“

Ein persönlicher Rachefeldzug für das erlittene Flüchtlingsschicksal? Ja und nein. Die Türken sind die Aggressoren, das steht für Antonis fest. Mit der Invasion 1974 habe das Unheil überhaupt erst begonnen. Die türkischen Zyprioten aber, die bereits vorher friedlich auf der Insel gelebt hätten, seien unschuldig.

Daß der Konflikt lange vor 1974 begonnen hat; daß die Insel ebenso Spielball griechischer Interessen war und noch ist; daß die türkische Minderheit in den sechziger Jahren systematisch diskriminiert wurde; all das streift der griechische Zypriot nur in einem Nebensatz.

Inzwischen hat ein Mercedes vor dem Haus gehalten. Drei französische Touristen steigen aus. Einer von ihnen zückt einen Fotoapparat. Die anderen zwei schlendern vorbei an dem Schild mit der Warnung „Niemandsland! Kein Betreten!“ Antonis springt auf: „Sie können dort nicht vorbei. Fotos sollten sie nur von dem Aussichtsturm hier aufnehmen. Anweisung der Grenzposten!“ Die Franzosen, Schirmmützen und Sonnenbrillen, schauen sich verdutzt an. Antonis: „Die Leute glauben einfach nicht, daß es hier jederzeit wieder losgehen kann.“