Wer ist Andrea Glass?

Sie ist die am drittbesten plazierte deutsche Tennisprofi der Weltrangliste. Sie ist das Gegenmodell zu Graf und Huber. Heute soll sie einen deutschen Fed-Cup-Abstieg verhindern  ■ Von Thomas Herget

Die Frau ist amtierende Deutsche Meisterin in einer Sportart, die nicht gerade zu den unpopulären gehört: Tennis. Und zwar im Einzel und Doppel (mit Barbara Rittner). Dennoch kennt sie kaum einer. Und wenn in den Regenpausen von Wimbledon oder Paris doch mal nette Homestories über das Nachwuchstalent über die Mattscheibe flimmern, hält sich die Porträtierte selbst – etwa über die linguistischen Ungereimtheiten eines Rudi Cerne – die Ohren zu. Noch gebe es, sagt Andrea Glass, kaum einen Sportreporter, der nach Jahren journalistischer Vertrautheit ihren Nachnamen richtig zu betonen verstehe.

Als im April die Fed-Cup-Frauschaft um Teamchef Markus Schur gegen die hochfavorisierten Spanierinnen knapp mit 2:3 unterlag, interessierte nicht, daß Glass die nach Anke Huber derzeit bestplazierte deutsche Spielerin ist, daß sie ihr zweites Einzel gegen Conchita Martinez souverän gewann oder daß sie durch Verletzung gehandicapt angetreten war. Der Pressetenor lag zwischen mitleidiger Nachsicht und aufmunternder Zustimmung: Die Nation ohne Anke und Steffi. Armes Deutschland.

Und nun? Graf hat abgesagt, aber Anke Huber ist 100 Tage nach ihrer Achillessehnenoperation wieder dabei, wenn das Fed- Cup-Team des Deutschen Tennis- Bundes dieses Wochenende in Moskau zum Abstiegsspiel gegen Rußland antritt. Zweite Einzelspielerin neben Huber: Andrea Glass, die heute das Auftakteinzel gegen Tatjana Panowa bestreitet.

Der Anbau neben dem Klubhaus ihres ehemaligen Vereins Grün-Weiß Neu-Isenburg, für den die gebürtige Darmstädterin bis zu dessen Bundesliga-Rückzug aufschlug, wirkt eher unscheinbar. Kein Schild warnt an der Herberge vor bissigen Hunden, auf dem Parkplatz davor stehen Polos, Corsas und ein alter BMW. Wenn Glass (21) nach getaner Arbeit ihre zahllosen Rackets schultert, dann verfolgt sie der Beruf sandkorngroß bis hinauf ins Schlafzimmer: Auf Schritt und Tritt verrät knirschend die rote Asche der angrenzenden Aschelätze ihre Profession. Dieses Jahr will sie mit dem neuen Verein TC Benrath/ Düsseldorf den Sprung in die Bundesliga schaffen, dann will die 75. der Weltrangliste auch unter den Top 50 geführt werden. Zeit, die Füße vor der heimischen Glotze hochzulegen, bleibt da kaum.

Angefangen hat sie mit sechs Jahren. Als der Vater ihrem älteren Bruder gerade wieder ein paar Bälle um die Ohren drosch, griff Glass zur Pfanne, „freiwillig und spielerisch“, wie sie beteuert. Weil sie beim parallel betriebenen Tischtennis „immer die Bälle aufheben mußte“, klebte schon früh Asche in ihrem Sohlenprofil. Sie wuchs rasch zur talentierten Kinder- und Jugendspielerin heran, erst beim Heimatverein TG Bessungen, dann beim Bundesligisten Neu-Isenburg.

Das kurze Zwischenspiel in Heidelberg bewertet ihr Trainer Markus Schneider rückblickend ernüchternd: „Das Leimener Modell ist nicht auf alle übertragbar.“ Im dortigen Leistungszentrum, wo einst Becker und Huber den letzten Schliff zu „lebenden Ballmaschinen“ bekamen, nehme man „wenig Rücksicht auf die Psyche der Spieler“ jenseits von Grundlinie und PR-Terminen.

In Isenburg lasse sich zudem „zukunftsorientierter“ arbeiten, ein Beleg dafür sei die Tatsache, „daß die Andrea im sechsten Profijahr noch nicht ausgepowert ist und sich kontinuierlich verbessern konnte.“ Tatsächlich stimmt Glass beim Thema Profisport auch nicht in die üblichen Klischees vom schnellen Reichtum oder in die überzogenen Vorstellungen erfolgshungriger Eltern ein, denn: „Du wachst nicht irgendwie morgens auf und bist Profi.“ Hineingewachsen sei sie, und „irgendwann hat es sich halt ergeben“.

Glass hat, während sie als Jugendliche hineinwuchs, einiges gewonnen: Europameisterin, Siegerin im Orange Bowl (Weltmeisterschaft), Halbfinale Wimbledon, Finale Melbourne. Die Liste der Spielerinnen, die sie noch als Teenager schlagen konnte und die nun unter den besten Fünfzig der Welt rangieren, ist beachtlich, die Anzahl derer, die sich von dort nach kurzen Gastspielen vom Profitennis verabschieden mußten, beängstigend.

Auch deshalb traut Schneider seinem Schützling nach behutsamem Neuaufbau mittelfristig einen Platz unter den ersten „Vierzig, vielleicht Dreißig“ der Weltrangliste zu. Dann würden auch die kräftezehrenden Qualifikationsrunden bei den großen Turnieren der Vergangenheit angehören. Glass' Spiel sei schon heute kaum noch zu verbessern, nur an der vielbeschworenen Antizipation, der taktischen Voraussicht, mangele es. „Jetzt sind wir an dem Punkt“, so der Tennislehrer, „wo sich alles über den Kopf entscheidet.“

Talent bringt die Allrounderin mit: guter erster Aufschlag, druckvolles Grundlinienspiel, peitschenartige Vorhand, sicheres Volleyspiel. Mit ihren 1,68 Metern kann sie auch leben. Schwächen, behauptet sie unbescheiden, habe sie keine, wenn da nicht jener berühmte „letzte Ball“ wäre, den sie häufig zu pomadig spielt und damit jede Gegnerin unnötig ins Match zurückbringt. Vorbilder Fehlanzeige. Okay, den Agassi sehe sie ganz gern. Ein wenig von dessen Abgezocktheit wünscht sich der Betreuer auch von seiner Schülerin. „Aber die Andrea“, sagt er und bringt damit deren antrainiertes Selbstbewußtsein wieder auf Normalmaß, „ist einfach zu nett.“