Dem Mitsein von Menschen und Natur dienen

■ Für den Philosophen Meyer-Abich besitzt die Natur unabhängig von der menschlichen Nutzung einen Eigenwert, der die ethische Grundlage eines Erhaltungswissens bildet

Jeder bedeutende Philosoph habe eigentlich nur einen Gedanken gedacht – so schrieb einst Martin Heidegger. Auf Klaus-Michael Meyer-Abich trifft das wohl zu. Sein gedanklicher Ausgangspunkt ist die Naturzugehörigkeit des Menschen. Der Mensch ist Teil des Naturganzen und daher eng mit seiner „natürlichen Mitwelt“ – wie Meyer-Abich die Umwelt des Menschen nennt – verbunden.

In seinem bislang umfassendsten Entwurf, „Praktische Naturphilosophie“, beschreibt er diese Einsicht in die Verbundenheit mit der Natur als einen Traum, dessen Inhalt die heutige Menschheit vergessen hat. Ihn wiederzubeleben ist das Ziel seiner ungemein faktenreichen Interpretation der „Kulturgeschichte der Natur“. Beginnend bei den religiösen Mythen der griechischen Antike und des frühen Christentums, erkennt er die Ausgrenzung der Natur schon in der Formung der christlichen Gottesgestalt nach menschlichem und nicht natürlichem Vorbild oder in der Bauweise der Kirchen. Bereits hier stellt sich der Mensch gegen und über die Natur, und hier beginnt deshalb für Meyer-Abich die Hybris der abendländisch- christlichen Kultur.

Dennoch konnte die Erinnerung an den Traum, an den Urzustand der Verbundenheit mit der Natur, bis zur Renaissance nicht vollständig verdrängt werden. Hier setzt daher auch Meyer-Abichs Suche nach neuer Selbsterkenntnis des Menschen und nach der Wiederbelebung dieses Traumes an.

Bei dem Theologen und Philosophen Nikolaus von Kues, einem der gedanklichen Wegbereiter der Neuzeit, wird er fündig. Dessen Gedanke von der Einheit und Ordnung des Universums, die dem einzelnen Wesen seinen Eigenwert verleihen, hat große Ähnlichkeit mit dem von Meyer-Abich vertretenen Ganzheitsdenken. Hier wie dort besitzt jedes Element der Natur unabhängig von menschlicher Nutzung seinen Eigenwert. So kommen die Vielheit und die Einheit der Natur zusammen.

Diese Einheit von Mensch und Natur zerbrach jedoch im Laufe der Neuzeit ebenso, wie die Idee von ihr verlorenging. Doch keine Bewegung ohne eine Gegenbewegung. Die Überheblichkeit des Menschen gegenüber der Natur bei Descartes, Locke und Kant wird von Goethe und Hölderlin in die Schranken verwiesen. Und der Naturwissenschaft als Zuträgerin der technischen Naturausbeutung steht das „Primat der Ethik“ gegenüber. Die Ethik soll dabei von der Orientierung auf Zerstörungswissen weg- und auf Erhaltungswissen hinführen. Sie soll zu einem gelingenden Miteinander mit anderen Menschen, mit dem Naturganzen und der Nachwelt führen. Ihre Grundlage ist jedoch kein vorschreibendes Sollen, sondern die Einsicht des Menschen in seine Natürlichkeit und seine Freude an ihr.

Es ist Meyer-Abichs große Stärke, nicht beim hochfliegenden Philosophieren zu bleiben, sondern zu konkreten Umsetzungen und Anwendungen seines Denkens zu kommen. So fordert er sanfte Energienutzung, einen natürlicheren Umgang mit der Zeit, Achtung vor der Würde natürlicher Wesen und eine naturnahe Ernährung. Daß er diese Bodenhaftung behalten hat, verdankt er sicherlich seinem politisch-praktischen Engagement – unter anderem als Senator in Hamburg.

Dennoch bleibt er Wissenschaftler, und es kann daher nicht ausbleiben, daß er seinen Grundgedanken auch auf die Wissenschaft bezieht. Dies tut er zusammen mit einigen KoautorInnen in einem zweiten, ähnlich gut ausgestatteten Buch: „Vom Baum der Erkenntnis zum Baum des Lebens.“

Es geht darin um die Fragen und Erkenntnisideale der heutigen Wissenschaft. Während die vorherrschende Form der Wissenschaft auf die Beherrschung der Natur abzielt, ist in der von Meyer- Abich vorgeschlagenen „Mit-Wissenschaft“ nur das wissenswert, was dem Mitsein des Menschen mit der Natur dient. Dabei gelten die Kategorien „richtig“ und „falsch“ wenig, „angemessen“ und „unangemessen“ dagegen sehr viel. Diese Art der Wissenschaft findet sich bei Goethe ebenso wie bei dem Physiker Niels Bohr und bei dem Psychologen und Mediziner Viktor von Weizsäcker.

Was das Konzept der Mit-Wissenschaft in der Ökonomie bedeutet, wird im Beitrag des Ökonomen Gerhard Scherhorn sehr plastisch. Er setzt sich für die Verabschiedung von der Verabsolutierung des Eigennutzprinzips und der reinen Abstraktion in der bisherigen ökonomischen Theorie ein und plädiert für Kooperation, Gerechtigkeit und intrinsisch motivierte Tätigkeiten – so sein Vorschlag für ein zukünftiges ökonomisches Forschungsprogramm. Ähnliche Richtungsänderungen hin zu mehr Lebens- und Mitweltorientierung werden in den anderen Beiträgen des Bandes für die betriebliche Bildung, die Biologie und die Physik anvisiert.

Ob sich die Wissenschaftler dieser Fächer am Ende einem solchen Denken anschließen werden, ist fraglich, viel zu sehr sind Objektivitätsglaube, Materialismus und Machtorientierung im heutigen Wissenschaftsbetrieb ausgeprägt. Neben dem Träumen bleibt aber immer noch die Hoffnung auf die subversive Kraft starker Gedanken, für die Meyer-Abich ein Beispiel gibt. Bernd Siebenhüner

Klaus-Michael Meyer-Abich: „Praktische Naturphilosophie. Erinnerung an einen vergessenen Traum“. C.H. Beck, München 1997, 520 Seiten, 78 DM

Klaus-Michael Meyer-Abich u.a.: „Vom Baum der Erkenntnis zum Baum des Lebens. Ganzheitliches Denken der Natur in Wissenschaft und Wirtschaft“. C.H. Beck, München 1997, 470 Seiten, 84 DM