: Keinen Fingerbreit nachgeben in Karabach
Vier Jahre nach dem Krieg zwischen Armeniern und Aserbaidschanern leidet Nagorny Karabach immer noch unter den Folgen der Auseinandersetzungen. Auch der Status der Enklave ist noch ungeklärt ■ Aus Nagorny Karabach Klaus-Helge Donath
Die breite Allee mit dem verwilderten Mittelstreifen steigt sanft den Hang in die Stadt hinauf. Zerfallene Häuser am Berg, verlassen und von dunklem Grün überwuchert, lassen ahnen, daß Schuscha einst ein wohlhabendes Städtchen war. Auf einem Betonsockel steht das jüngste Mahnmal der Ortschaft, der T 72, ein russischer Panzer neuerer Bauart. Drei abgerissene Gestalten torkeln das Kopfsteinpflaster zwischen ausgebrannten Fassaden hinunter und verlangen eine Spende. „Zugunsten alter Frontkämpfer“, grinst der Zahnlose. Der Schnaps ist ausgegangen und wohl auch der Lebensinhalt, seit die Waffen schweigen.
Schuscha liegt in Nagorny Karabach, einer armenischen Enklave auf dem Gebiet Aserbaidschans. In den zwanziger Jahren hatte Stalin Nagorny Karabach dem Nachbarn Aserbaidschan zugeschlagen, um den Transkaukasus botmäßig zu machen. Michail Gorbatschow hatte kaum die Zügel der Partei gelockert, als die Armenier in Karabach – dem „schwarzen Garten“ – 1988 verlangten, sich mit Eriwan zu vereinigen. 1991 entlud sich der Konflikt in einem Krieg, der 35.000 Armeniern und Aseris das Leben kostete. 600.000 Aserbaidschaner und 800.000 Armenier mußten jeweils ihre Heimat verlassen.
Als die kriegführenden Parteien 1994 einen Waffenstillstand schlossen, hielt Nagorny Karabach ein Fünftel des aserbaidschanischen Staatsgebietes besetzt. Sechs Jahre nach der Entscheidungsschlacht um Schuscha liegt das Städtchen noch immer in Schutt und Asche. Einzig das auf einer Anhöhe gelegene Gazantschetsots, Armeniens größtes Gotteshaus, wird emsig wieder aufgebaut. Die Arbeit überwacht Erzbischof Parkew. Ansonsten hat er nicht viel zu tun, höchstens 2.000 Seelen fristen in Schuscha ihr Dasein.
Parkew ist eine imposante Gestalt. Mit dem buschigen Bart und wallender Kutte könnte er einer byzantinischen Ikone entstiegen sein. Sanftmut strahlt er aus, desgleichen Unerbittlichkeit und Eigensinn. Unter Kommunisten und muslimischen Aseris hatte die Kirche doppelt zu leiden. Im Verständnis des geistlichen Würdenträgers vermengen sich verschiedene Aspekte: Staatliche Souveränität Karabachs und Wiedererweckung der Kirche sind für ihn ein und dasselbe. „Wer Armenier ist, kann nur Christ sein“, zitiert Parkew den legendären Mönch und Schöpfer des armenischen Alphabets, Mesrop Maschots, und ruft ihn gleichsam in den Zeugenstand: „War es nicht das antike Armenien, das das Christentum im vierten Jahrhundert zur nationalen Religion erhob?“
Aus den steinernen Zeugnissen ihres Glaubens in den entlegensten Ecken Karabachs leiten die Armenier heute ihren alleinigen Anspruch auf das Land ab. In Schuscha lebten bis zum ethnischen Gemetzel die Völker nebeneinander. Die enthaupteten Minarette der beiden Moscheen belegen es noch. Könnte sich der Bischof vorstellen, daß eines Tages die aserischen Flüchtlinge zurückkehren? Die Miene des Vaters verfinstert sich. Eine fast atavistische Abneigung gegen jeglichen Kompromiß schimmert durch.
Der Ort der Andacht und Wallfahrt ist gleichzeitig Hort eines grimmigen alttestamentarischen Völkerhasses. Die sogenannte Minsk-Gruppe der OSZE, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, bemüht sich seit 1992 um eine Lösung des Konflikts. Ihr letzter Vorschlag sieht einen Zweistufenplan vor: Zunächst gibt Karabach die sechs besetzten aserbaidschanischen Bezirke zurück, danach beginnen Verhandlungen über den Status der Bergregion. „Unmöglich“, winkt der stellvertretende Außenminister Wassili Atadschanjan ab.
Er residiert in Stepanakert, der Hauptstadt wenige Kilometer weiter unten im Tal. „Es war schon ein Kompromiß, daß wir auf die Wiedervereinigung mit Armenien verzichtet haben.“ Atadschanjan prüft nochmals, ob der Stromausfall behoben ist, um die Kaffeemaschine in Betrieb zu setzen. Vergebens. „Wo bleiben unsere Sicherheitsgarantien? Geben wir das Land zurück, verhandelt keiner mehr mit uns über den Status.“
Zu den Scharfmachern gehört der Außenminister nicht, wie er denkt die Mehrheit der Armenier auch im Mutterland. Levon Ter Petrosjan, der einst gefeierte erste Präident des unabhängigen Armeniens und Aktivist des Karabach- Komitees, bekam das im Februar zu spüren. Er fiel einer Palastrevolte zum Opfer. Petrosjan schien bereit, dem Druck der Minsker Gruppe nachzugeben. Unter dem Vorsitz der USA drängten die Vermittler darauf, Karabach solle im aserbaidschanischen Staatsverband bleiben, im Gegenzug dafür aber weitreichende Autonomierechte erhalten.
Nach dem Zusammenbruch der UdSSR unterstützten die USA und der Westen zunächst Armenien. War es doch ein christlicher, vergleichsweise demokratischer Vorposten, umgeben von autoritären, fundamentalistischen oder zumindest semidemokratischen Regimen. In den vergangenen drei Jahren hat sich das Blatt gewendet. Aserbaidschan steigt in der Gunst, seitdem ungeheure Ölreserven des Kaspischen Meeres verbrieft sind. Selbst Rußland unternahm eine Kurskorrektur. Die Befriedung und Stabilisierung der Region spielt dabei nur eine nebensächliche Rolle. „Wo Öl gefördert wird, herrschen selten ideale Rahmenbedingungen“, erklärt der Manager eines Ölmultis.
Baku schaut indes genauer hin, wenn es Bohrrechte und Vergünstigungen vergibt, ob der Partner dem eigenen politischen Anliegen dienlich ist. Wie in Eriwan kreisen auch in Baku alle innen- und außenpolitischen Erwägungen um das Karabach-Problem. Eine kompromißbereitere Haltung, hoffte Ter Petrossjan, würde die Blockade um Armenien lockern.
Der Weg nach Osten ist von Baku versperrt, im Westen hält Aserbaidschans Verbündeter, die Türkei, seine Grenzen geschlossen. Anscheinend lockte man den Armenier auch mit der Aussicht, eine Ölpipeline über armenisches Territorium zu verlegen, die der Wirtschaft dringend benötigte Petrodollars zugeführt hätte. „Ein winziger Betrag von 100 Millionen US-Dollar wären das vielleicht im Jahr“, meint Alexander Grigorian vom armenischen Zentrum für nationale und internationale Studien in Eriwan. Grigorian stammt aus Baku und verließ die Stadt nach den antiarmenischen Pogromen 1989. Jetzt ist Königsmörder Robert Kotscharjan neue führende Kraft in Eriwan. Im April wurde er zum Präsidenten gewählt. Dabei holte Petrossjan den 43jährigen erst vor einem Jahr als Premier aus Stepanakert. Wie kein anderer verkörpert der Elektroingenieur den Kampf der Bergarmenier.
1992 war er einer der Organisatoren der Verteidigungskräfte und Ministerpräsident der international nicht anerkannten Republik Nagorny Karabach, wenig später ihr Präsident. Bedeutet seine Wahl einen neuen Krieg? „Wir sind hartnäckig und etwas stur“, beschreibt Maurer Aschot den Charakter seiner Landsleute. Er mauert gerade an einer Kirche. Ihre Unnachgiebigkeit soll es gewesen sein, die die Aseris in die Knie zwang. Im Verständnis der Armenier besagt das Kriegsglück mehr als eine gewonnene Schlacht. Es beschreibt eine Zäsur, einen Befreiungsschlag von der eigenen Geschichte. „Erstmals hat sich unser Volk nicht widerstandslos zur Schlachtbank führen lassen“, erläutert Soziologe Tadewosian, „das erklärt, warum wir keinen Fingerbreit nachgeben.“
Abgesehen von kurzen Perioden der Unabhängigkeit war Armenien immer Zankapfel zwischen mächtigen Imperien. Persien, Rom, Byzanz. Seit dem 16. Jahrhundert besetzt die Türkei die angestammten Siedlungsgebiete der Armenier, die, ständigen Pogromen ausgesetzt, 1915 einem Genozid der Türken zum Opfer fielen. Er läßt die Menschen nicht los, es ist ihr Holocaust. Heute fehlt das Geld, um das Mahnmal in Eriwan instand zu setzen. Was übrigbleibt, fließt nach Stepanakert.
Die 50.000 Einwohner der Hauptstadt leben in einer Sommerfrische. Bergluft und blühende Gärten. Im Park vor dem Regierungsgebäude wartet ein Fotograf auf Kunden, die sich vor einem Plakat mit Palmen „Gruß aus Miami“ ablichten lassen. Viel hat er nicht zu tun. Die Fabriken stehen still. Kriegsspuren sind beseitigt, am Stadion erinnert eine Aufschrift an die jüngste Vergangenheit: „Nur die Selbstverteidigung rettet die Existenz des Volkes“.
Uniformierte trifft man kaum. Dennoch ist die Armee der größte Arbeitgeber. Präsident Arkadi Gukasian nennt die Truppenstärke schmunzelnd „ausreichend“. Konkreteres wäre schon Geheimnisverrat. Andererseits verhehlt er den Teufelskreis nicht: „Keiner investiert, weil weder Krieg noch Frieden herrscht.“ An die 20.000 Tonnen Weizen lieferte Karabach im letzten Jahr ans Mutterland, während der Iran Schrottmetall aufkauft, wovon der Krieg genug hinterließ.
Alles andere kommt den entgegengesetzten Weg. Auf dem Markt finden sich sogar Süßwaren des türkischen Erzfeindes. „Ganz wasserdicht war die Blockade nicht einmal im Krieg“, räumt der Verkäufer ein. Türkische Waren gelangten immer nach Stepanakert. Unterdessen verrosten die Güterzüge auf dem Bahnhof, alle Gleise laufen nach Baku. Stepanakert ist nur über eine einzige Straße zu erreichen. Wenige Minuten hinter der Stadt verwandelt sie sich in einen Karrenweg. Auf der Paßhöhe kontrollieren in einem Bretterverschlag Soldaten den Übergang zum ehemals von Aseris besiedelten Latschin-Korridor. Sie bewachen nichts, sondern gehören einfach zu den Insignien der ersehnten Staatlichkeit. Die Gegend ist ausgestorben, in den Ruinen von Latschin haben sich armenische Flüchtlinge einquartiert, Großstädter, die zur Subsistenzwirtschaft gezwungen sind.
Ein Drittel der armenischen Bevölkerung steht inzwischen außer Lohn und Brot. Dafür beginnt noch im Ortskern eine vierspurige Schnellstraße mit Leitplanken, nach westlichen Standards gebaut, wie es im ganzen Kaukasus keine vergleichbare gibt. Die armenische Diaspora stiftete 11 Millionen US- Dollar, um den Anschluß Karabachs auf 40 Kilometer zu asphaltieren. Ohnehin bestreiten Auslandsarmenier schon ein Fünftel des Karabacher Haushalts.
Acht Stunden dauert die Fahrt bis Eriwan über drei schneebedeckte Päße. Armenien war die kleinste Republik der UdSSR. Setze man dort einen Fuß hin, so die Vorstellung, beginge man unweigerlich eine Grenzverletzung. Schneefelder ermüden das Auge, Abwechslung verschafft gelegentlich eine Kirche, die wie ein Leuchtturm in einem steinernen Meer am Horizont wacht.
Das abendliche Eriwan versinkt im Dunkeln. Nicht einmal im Zentrum am Freiheitsplatz gönnt sich die Hauptstadt Licht. Strom und Wasser werden rationiert. „Wie lange soll das noch weitergehen“, klagt Lehrerin Lydia. Sie lebt von 10.000 Dram (40 Mark) im Monat. Etwa ein Viertel der vier Millionen Bürger emigrierte in den letzten Jahren, um in Rußland oder im Westen Arbeit zu suchen. Auch Lydia würde gerne gehen: „Ich bin es leid, für Karabach zu leiden“, flüstert sie, „aber es ist wohl unser Schicksal.“
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