Die Kunst des Möglichen

Politik des Mißtrauens: Bismarck. Er gehört nicht zu den ganz großen Politikern, doch er war ein Faktor der Geschichte. Ohne ihn versteht man die Entwicklung der politischen Kräfte im 19. und 20. Jahrhundert nicht. Zu seinem heutigen 100. Todestag  ■ Von Jürgen Busche

Welchen Gedanken verbindet das historische Gedächtnis mit dem Namen Otto von Bismarcks? Ist es der Gedanke, der einem bedeutenden Mann gilt – wie andere Caesar oder Napoleon gelten? Oder ist es der Gedanke, der einem besonderen Ereignis, einer neuen Entwicklung im Gang der Geschichte gilt – wie Alexander oder Karl dem Großen? Die Feldzüge des Makedonenkönigs veränderten in der Antike die Staatenwelt vom östlichen Mittelmeerraum bis zum persischen Golf für Jahrhunderte und schufen eine griechische Ökumene, deren geistige Kraft groß genug war, um auch noch dem Römischen Reich wichtige Züge einzuprägen. Das Reich Karls des Großen verschob die Macht der römischen Christenheit vom Mittelmeer, wo sie nicht mehr viel bestellen konnten, unumkehrbar nach Kontinentaleuropa nördlich der Alpen.

Caesar vereinte als Staatsmann Macht in seinen Händen wie nie ein Mensch vor ihm. Aber sein Wirken machte nur das Ende Roms als Republik evident; die römische Monarchie mit dem unvergleichlichen Kaiserreich begründete Oktavian, der als Augustus den staatlichen Rahmen der damals bekannten Welt für ein halbes Jahrtausend begründete. Napoleon zerstörte das Europa der Fürsten und eröffnete das Zeitalter der Völkersouveränität, der zuerst sein Reich zum Opfer fiel und die auch die Restauration, die seine siegreichen Gegner auf der Seite der Monarchen versuchten, nicht mehr eindämmen konnte.

In der neueren Geschichte haben Staatsmänner aus Deutschland nur selten die Bedeutung gehabt, die ihre Unternehmungen folgenreich für die europäische oder gar Weltgeschichte sein ließen. Friedrich der Große wurde zwar populär durch die Schlachten seiner Kriege, aber den Schritt über den Rang einer Regionalmacht hinaus tat in seiner Zeit weniger Preußen als vielmehr England, das damals – von den sich streitenden Kontinentalmächten unbehelligt – sich ein Weltreich eroberte. Preußen konnte im europäischen Pferch ein mächtigerer Hammel werden, aber es blieb im Pferch; andere Länder blieben dort nicht selten und stellten Berlin in einen Schatten, aus dem es 100 Jahre später mit neurotischem Ungestüm herauszukommen suchte.

Bismarck, der – eben diese 100 Jahre später – auf dem Berliner Kongreß das von ihm vereinte Deutschland als Kaiserreich der Hohenzollern in einer weltpolitisch bedeutsamen Rolle vorstellen wollte, gilt als einer der großen Staatsmänner der Geschichte, mit denen die Deutschen auch in den Geschichtsbüchern ihrer Nachbarn und auch fernerer Nationen vertreten sind. Aber schon der Berliner Kongreß verhandelte Gegenstände, die heute nur noch Spezialisten für das 19. Jahrhundert vertraut sind, und seine Ergebnisse überlebten kaum eine Generation.

Bismarck einte Deutschland und stellte es als Nationalstaat – lang ersehnt von vielen Deutschen – gleichrangig neben andere Nationalstaaten in Europa. Aber dieser Nationalstaat überlebte kaum drei Generationen und hatte schon bei seiner Gründung überhaupt nicht dem entsprochen, was einst sich etwa der junge Jacob Burckhardt von der deutschen Einigung erwartet hatte, als er noch als politischer Redakteur in Basel arbeitete.

Burckhardt war enttäuscht darüber, daß in den deutschen Ländern im Norden allein wirtschaftliche und industrielle Interessen die Tendenzen zum politischen Zusammenschluß bekräftigten – und schließlich bestimmten. Das Deutsche Reich, das in drei Kriegen gegen seine künftigen Nachbarn in Europa erstritten wurde, umfaßte – das ist oft bemerkt worden – nicht alle Deutschen, dafür aber viele Menschen, die nicht Deutsche waren und das auch nicht sein sollten. Man pflegt das seither in Deutschland mit einem besonderen Akzent Realpolitik zu nennen, oder man sagt, mit einem Wort Bismarcks, Politik sei eben die Kunst des Möglichen.

In der Geschichte geht es nicht darum, was möglich oder unmöglich ist. Alexanders Rolle für die Geschichte der Alten Welt ließe sich in keiner Hinsicht unter dieser Kategorie beurteilen. Betrachtet man die kurze Lebensdauer des Bismarckreichs, so bleibt dem Betrachter am ehesten der Ratschluß, das, was damit versucht wurde, sei eben unmöglich gewesen und habe mit Kunst herzlich wenig zu tun gehabt.

Indes, das ist keine Betrachtungsweise, die dem wirklichen Leben, das der Historiker, wenn auch als ein vergangenes, im Blick haben sollte, gerecht wird. Wenn etwas nicht gelungen ist, muß der Betrachter immer noch erst nach Motiven und Handlungsvoraussetzungen fragen, bevor er zu einem Urteil kommt. Einer von Bismarcks weisesten Zeitgenossen, der gelehrte jüdische Altphilologe Jacob Ernays, hat einmal gesagt, es könne ja sein, daß die Weltgeschichte das Weltgericht sei, aber man wisse eben nie, wann der Instanzenzug zu Ende sei.

Für das Bismarck-Deutschland ist er wohl zu Ende. Dennoch muß man – oder um so mehr deshalb muß man – fragen, was hat der Mann gewollt, wenn man seinen Platz in der Geschichte beleuchten will.

Zunächst einmal wollte er eine Rolle spielen. Deshalb war der märkische Landjunker im Vorfeld der 48er Revolution zu jeder Tollheit bereit und zu mancher Schandtat aufgelegt, nur, um sich wichtig zu machen. Deshalb war der heranwachsende Politiker bald darauf als Preußischer Gesandter beim Deutschen Bundestag in Frankfurt ein Spottbild für alle Ideale, unter denen damals und später von der deutschen Einheit gesprochen wurde. Deshalb ging der bedenkenlose Machtmensch Bismarck im Konflikt des Parlaments gegen die Monarchie besinnungslos den Weg, der nach den Forderungen des Monarchen das Militär unabsehbar stärkte, denn das war der einzige Weg, der ihn an die Spitze des Staates brachte und ihm dort ein Bleiben versprach. Nicht nur Deutschland, auch Preußen hätte, nimmt man die Ausgangsbedingungen der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts, nicht der Militärstaat werden müssen, als der zumindest Preußen 1945 – und aufs Ganze seiner Geschichte gesehen, ungerechterweise – unterging, indem es von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs aufgelöst wurde.

Bismack hatte um der Macht im Inneren des Landes willen, dem er als Ministerpräsident hätte dienen sollen, das Militär stark gemacht, weil er zuerst seinem König, Wilhelm, den er später zum Deutschen Kaiser krönen ließ, dienen wollte; und er hatte das getan, weil er zuallererst Ministerpräsident in Preußen sein wollte. Die Kriege, die als Einigungskriege in die Geschichte eingegangen sind, führte er unter dem Gesichtspunkt dieser prekären Begründung von Macht in Berlin und für Berlin. Das war die Realität, die seine Realpolitik diktierte. Eine unter mehreren Konsequenzen, die daraus folgten, war, daß für etliche Länder die deutsche Einheit daraus entstand, für andere nicht. Und daß einige, die es nicht wollten, gleich, ob sie Deutsche waren oder nicht, gleich mitgeeint wurden. Bismarck war das gleichgültig. Er hatte vorher keinen Plan gehabt, wie ein vereintes Deutschland aussehen sollte, warum sollte er hernach einen haben?

Als das vereinte Deutschland als Kaiserreich wegen seiner militärischen Stärke, die bald durch seine industrielle Macht forciert wurde, die europäischen Nachbarn irritierte, setzte Bismarck nicht auf eine Politik des Vertrauens, sondern auf eine Politik der Verbreitung von Mißtrauen. Es ist die Frage, ob ihm bei der Vorgeschichte seiner Kanzlerschaft im Reich und bei der Geschichte seiner Machtsicherung ein anderer Weg noch offenstand. Jedoch, wer hier auf Notwendigkeiten der zeitbedingten Lage verweist als auf etwas, das man historisch aus der Situation von damals verstehen müsse, der sollte nicht übersehen, wie sehr die Notwendigkeit aus den Bredouillen erwuchs, in die er selbst sich ohne Not gebracht hatte, es sei denn, man wollte unstillbaren Machthunger für den Staatsmann wie für den Staat zu einer unbedingten Notwendigkeit ihres erfolgreichen Wirkens erklären – was allerdings schon damals außerhalb Deutschlands und außerhalb von Bismarcks Vorstellungswelt nur wenige getan hätten.

So wie Bismarck die Mächte außerhalb von Deutschlands willkürlich geschaffenen Grenzen nur als Kombattanten sehen konnte, bei denen man stets darauf zu achten habe, daß jeder bereit sei, gegen jeden zu kämpfen, so behandelte er auch in der Innenpolitik alle Gruppen als Mächte, die man gegebenenfalls bekämpfen mußte. Nacheinander überwarf er sich mit Liberalen, Katholiken, Sozialdemokraten, immer wieder auch einmal mit den Konservativen. Daraus wurde eine 20jährige Kanzlerschaft, aber kein Staat im Sinne irgendeiner Lehre von Politik. Das Volk, von dem ebenfalls Jacob Bernays in den 80erJahren erwartet hatte, daß es die Weltkultur der nächsten Jahrhunderte schaffen werde, wie vor ihm nur die Griechen und die Franzosen, besaß fortan nicht einmal eine Ahnung von dem, was politisches Selbstbewußtsein von Bürgern und Parteileuten sein könnte. Es wurde nur durch einen rhetorisch überhitzten, lediglich in solcher Rhetorik lebenden Nationalismus zusammengehalten.

Bernays Freund, der Althistoriker Theodor Mommsen, liberaler Reichstagsabgeordneter und der erste Literaturnobelpreisträger deutscher Sprache, bemerkte verbittert, Bismarck habe den Deutschen das Rückgrat gebrochen. Zwei Ereignisse der deutschen Geschichte freilich, die in die Zeit der Bismarck-Regierung fallen, haben über seine Epoche und den Rahmen seiner Handlungsmöglichkeiten hinaus gewirkt. Beide gingen aus defensiven Manövern hervor. Im Kampf gegen die Sozialdemokraten, die ihm demokratisch zusetzten, schuf er – neben scharfen Unterdrückungsmaßnahmen – eine Sozialgesetzgebung, die der betroffenen Bevölkerungsschicht die Möglichkeit eröffnete, sich sozial zu einem homogenen Milieu zu entwickeln, das eine politische Bedeutung bekam, wie man sie vorher in der europäischen Geschichte nicht kannte. Hier gelang es einer Vorstellung von politischer Praxis, Wurzeln zu schlagen und ein gesellschaftliches Geflecht wachsen zu lassen, das schließlich ein für ganz Europa verbindliches politisches Paradigma erzeugte.

Im Kampf gegen die Katholiken, die der Protestant Bismarck als Reichsfeinde erachtete, im sogenannten Kulturkampf, mit dem er die antimoderne Macht der Kirche brechen wollte, schuf er eine innenpolitische Frontstellung, aus der der Katholizismus, der wenige Jahrzehnte zuvor sich in schweren Krisen befunden hatte, intellektuell, gesellschaftlich und organisatorisch gestärkt hervorging. Die katholische Kirche in Deutschland konnte unter dem von Bismarck ausgelösten staatlichen Druck ihre spirituelle Interessantheit bewahren und zugleich in nicht geringem Umfang Arbeiter und kleine Angestellte, die Protagonisten der neuen Gesellschaft, an sich binden. So konnte die katholische Kirche – nicht nur in Deutschland – zu dem Bollwerk werden, an dem der Kommunismus gesellschaftlich, zunächst nur in West- und Südeuropa, scheiterte. Es ist die Frage, ob dies ohne die Konfrontation im Kulturkampf so möglich gewesen wäre.

Insofern ist Bismarck wichtig, wenn man die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts erzählen will. Er gehört nicht in die Riege, in der Napoleon und Alexander, Caesar oder Karl der Große ihren Platz haben. Aber er war ein – wenn auch unsouveräner – Faktor der Geschichte; ohne sein Wirken zu kennen, kann man nicht verstehen, wie die politischen Kräfte im 19. und 20. Jahrhundert sich entwickelten und veränderten. Doch schon dem 21. Jahrhundert wird das gleichgültig sein.

Jürgen Busche ist Chefredakteur der Badischen Zeitung