Befehl zum Angriff auf die Festung

Täglich versuchen Immigranten aus dem Maghreb mit allen Mitteln, nach Italien zu gelangen. Mit der konzertierten Aktion sollen Gelder für die Heimat erpreßt werden  ■ Aus Agrigent Werner Raith

Ali Jessif thront auf seinem „Feldherrenhügel“, dem Gemäuer eines verfallenen Bauernhofs, und sondiert das Gelände. Sein nagelneuer superstarker Feldstecher wandert fast ganz im Kreis herum: Neustadt, Altstadt, Hafen, Archäologischer Bereich, Vorstadt, die sanften Erhebungen im Osten hinauf und hinein ins Hinterland, von wo sich die Straße zu dem ehemaligen Gehöft herschlängelt. „Alles o.k.“, ruft er nach unten. Die acht Männer nehmen es zur Kenntnis, essen weiter, unterhalten sich halblaut in einer Mischung aus Italienisch, Arabisch, Englisch: Bunt zusammengewürfelt sind sie, aus Tunesien und Marokko, Sierra Leone und Libyen.

Jeder von ihnen ist Vertreter einer Gemeinschaft von illegal Eingewanderten, die nun beobachten, was mit solchen ihrer „Schützlinge“ geschieht, die in den letzten Tagen beim Anlanden von der Marine oder schon zu Lande von der Polizei erwischt und interniert wurden. Sicher, all das ist nur ein Teil derer, die tagtäglich mit Hilfe von Schlepperorganisationen nach Italien „einfiltern“, wie sie stolz kundtun, ohne aber Einzelheiten zu nennen. „Wir sind ja auch nicht blöde“, sagt Emer O'Nara und läßt seine blitzweißen Zähne im schwarzen Gesicht blinken.

Aber auch wenn sie den Großteil unbemerkt hier einschleusen: Die in alle Welt übertragenen Bilder allzu vieler Erwischter nagen am Image der Organisationen. Und so haben die Organisationen befohlen, daß die nach Italien beorderten Capi auch konkret Sichtbares für die Internierten tun. Und genau darüber finden nun allerorten Beratungen zwischen den Residenten der Schieberbanden statt.

Während unten das Treffen der Bosse stattfindet, beschäftigt sich Ali Jessif mit einem Artikel in den Politzeitschrift Panorama. „Geschafft – Wir sind die Könige des Mittelmeers“, lautet der Titel eines Interviews mit Italiens Außenminister Lamberto Dini. Vollmundig verkündet der Außenamtschef da, daß sein Land nun eine Art unbestrittene, von allen anerkannte Führerrolle rund ums Mar mediterraneo einnehme und jeder Italiens Rat und Entscheidungen respektiere. Deshalb gehöre das Gebiet derzeit auch zu den friedlicherem auf der Welt. „Von wegen“, Ali Jessif grinst. „Das würde er sich wohl schon heute gerne in den Mund zurückstecken.“

Tatsächlich – das sehen alle der hier versammelten Männer als gesicherte Erkenntnis an – ist die plötzlich mächtig anbrandende Flut von Flüchtlingen aus Nordafrika zum großen Teil auf die unvorsichtige Prahlerei Dinis zurückzuführen. „Da sind unsere Regierungen aufgewacht“, sagt der Tunesier Nagib, „und haben uns regelrecht ermuntert, massenweise Richtung Italien aufzubrechen.“ Das Ziel ist eindeutig: entweder ansehnliche Immigrationsquoten ins Land jenseits des Mittelmeers auszuhandeln oder durch immer massiveren Anlandungsdruck Gelder für die Maghrebstaaten zu erpressen.

Damit die italienische Regierung und auch die EU sich auch darüber klar sind, wie stark der Druck werden könnte, überlegen die neun Herren hier in der Hofruine konzertierte Aktionen, die auch die bisherige Methode Einfangen- Aufnahmelager-Abschieben ins Leere laufen läßt.

Alte Hasen sind hier alle: Ali Jussif war viermal illegal in Italien und ist nun zum fünften Mal da, Emer O'Nara zum dritten Mal. Der Mann aus Marokko, der seinen Namen nicht nennt, soll achtmal zurückgekehrt sein und wegen Rädelsführerschaft in einer organisierten Schlägerei mit der Polizei steckbrieflich gesucht werden.

Am Wochenanfang zeigten die Gefolgsleute der Bosse erstmals, wie sie künftig vorgehen werden: Im Aufnahmelager von Agrigent, wenige Kilometer von hier, verschanzten sich die dreihundert dort Internierten im Gebäude und auf dem Dach und bewarfen die Wachposten mit harten Gegenständen. Gleichzeitig begann in einem Lager in Catania, nürdlich von Argigent, ein Hungerstreik aller InsassInnen. Und auf Italiens südlichster Insel Lampedusa versuchten die 180 Männer eines Camps das Ausgangstor zu sprengen und zu fliehen. Nur mit Mühe gelang es der Polizei, die Lage unter Kontrolle zu bringen. „Und das ist erst der Anfang“, sagt Ben Jussif und weist mit dem Kopf nach unten zu den „Capi“. „Die haben noch viel mehr auf Lager.“

Offenbar sind die neun Männer inzwischen zu einem Ergebnis gekommen. Jedenfalls wollen sie durch Rufe nach oben wissen, ob die Luft rein ist. Ist sie. Die Männer sammeln ihre Utensilien ein. Jeder verfügt über mindestens zwei, manche über vier Handys – die für die Konferenz alle abgeschaltet wurden. Nur Jussifs Apparat blieb, als Notruf, online. Auch Schlagringe und Spingmesser werden verstaut, ein Revolver blitzt auf. Alles wandert in riesige Sporttaschen, darüber wird dann die „roba“ verstaut, das Zeug, das sie, nach außen ambulante Tandverkäufer, so alles anbieten: Strandtücher und Taschenlampen, Musikkassetten und darüber allerlei Glibberzeug, das eher unangenehm anzufassen ist. Das ist wohl ein Schutz gegen neugierige Polizisten, die in den Taschen wühlen wollen.

Ben Jussif, der ebenfalls mit seiner roten Sporttasche losmarschiert, hat nun einen schwierigen Trip vor sich. Er muß irgendwie nach Lampedusa kommen. Die dort „an sich ganz wie geplant aufsässig Gewordenen haben dann keine gemeinsame Linie gefunden, und darum ist alles zusammengebrochen“. Derlei kann man nicht über Handy verhandeln, da muß man selbst hin. Zudem ist die italienische Polizei ja auch nicht von gestern. Unentwegt werden die Camps neu gemischt, Leute von hier nach dort verschoben und wieder zurück – eine während der Hoch-Zeit des Linksterrorismus entwickelte, überaus wirksame Methode zur Verhinderung größerer Aktionen. Dagegen muß sich Ben Jussif etwas einfallen lassen.

Normalerweise wäre er nun mit einem Fischkutter zu der gut 180 Kilometer entfernten Insel getuckert. „Aber gerade die werden derzeit besonders gefilzt.“ So nimmt er den ganz regulären Dampfer Neapel–Agrigent–Lampedusa. „Keiner kommt auf die Idee, daß ein Illegaler, der schon auf dem Festland ist, nach Lampedusa fährt, wo alles voller Polizei ist.“ Er hat recht. Es ist kinderleicht, ohne Kontrolle auf das Schiff zu gelangen. Nur ein einziges Mal wird es eng, als eine Frau auf dem Schiff einen Taschendiebstahl meldet und die Matrosen alle Mitfahrer befragen. Doch kurz bevor die Matrosen zu uns kommen, geht am oberen Deck ein Riesengeschrei los. Die Matrosen und Polizisten stürmen hoch, und Jussif ist danach verschwunden. „Mit sowas muß man rechnen“, sagt er, ganz wie ein alter Stratege, als wir uns auf Lampedusa wiedersehen.

Die dortigen Behörden sind überaus nervös und sperren alle möglichen Gebiete ab. Nur wenige Urlauber sind zu sehen. Journalisten, zumal ausländische, mögen die Ordnungshüter überhaupt nicht. Merkwürdig, wie viele von ihnen den Namen „Kanther“ kennen, für sie offenbar die Unperson schlechthin. „Euer Innenminister wartet ja nur darauf, daß bei uns was passiert, damit er wieder auf uns eindreschen kann“, barmt ein Carabiniere. Und sein Kollege fügt hinzu: „Wir überlassen ihm gerne unseren Platz. Er soll nur kommen und zusehen, wie er 7.000 Kilometer Küste bewacht.“

Ben Jussif, der das Gespräch mit dem Rücken zu uns an der Bar mit angehört hat, ist da ganz der gleichen Meinung: „Europa kann sich, sooft es will, zur Festung erklären. Solange Italien dazugehört, werden wir reinkommen.“ Das, meint er, lehre sogar die Geschichte, mit der er sich zu Hause intensiv befaßt hat. „Im Norden haben sie mit ihrem Grenzwall, dem Limes, jahrhundertelang alle abhalten können. Aber wer übers Meer kam, wie Hannibal und sogar die aus dem Norden anbrandenden Vandalen, der kam rein, früher oder später.“ Invasionsphantasien? Oder doch nur Gedanken eines erfahrenen Mannes, der jenen Regierungen zuarbeitet, die ihre finanzielle Malaise und ihre innenpolitischen Schwierigkeiten durch ein paar Euro-Milliarden bewältigen wollen? Ben Jussif macht ein Zeichen: Er haue jetzt ab.

Am frühen Morgen heulen die Nebelhörner der Küstenwache wieder. Aus dem Dunst, der in diesem schwülen Sommer nahezu unentwegt über dem Meer liegt, taucht langsam ein unförmiger Kasten auf – unförmig, weil die Schiffssilhouette durch unzählige Menschen an den Relingen, in den Seilen der Aufbauten und an den Bordwänden vergrumpelt ist. Ein neues „Schiff der Verzweifelten“, wie die Zeitungen schreiben werden, mit gut 250 Menschen an Bord. Die Uniformierten aus dem eskortierenden Marinefahrzeugen werfen Wasserflaschen zu den „Boat-People“ hinüber, dann gehen die Fahrzeuge vor Anker.

Ben Jessif drängt sich durch die Menschen am Kai. Er weiß, in diesem Moment gibt es an Land keine Kontrollen, alles konzentriert sich darauf, völkerrechtlich korrekt die Unerwünschten zu registrieren, Camps zuzuweisen und ihre Rücksendung zu organisieren. Die erfolgt mit großen Militärflugzeugen vom Typ C 232, von denen just bei der Ankunft der neuen Flüchtlinge zwei abheben, Richtung Maghreb.

Ben Jessif macht eine Geste nach oben. „Leider sind da auch drei Leute von mir drin“, sagt er, deutet dann aber nach vorne: „Wenn ich mich nicht täusche, kommen da neue. Auf einen davon warte ich ganz besonders. Der wird mir hier beim Organisieren mächtig helfen. Er war schon sechsmal hier in Italien.“ Der Kampf geht weiter.