■ Kommentar
: Not macht erfinderisch

Auch ausgeklügelte technische Systeme sabotieren sich selbst durch den unberechenbarsten aller Faktoren: den Menschen und sein Versagen. Menschliches Versagen kann manchmal wirklich human sein, manchmal auch nur geschäftstüchtig und manchmal ist es auch beides zusammen. Dann bricht auch ein erfindungsreiches System am Erfindungsreichtum seiner Nutzer zusammen. Berlins Chipkarte für Flüchtlinge sollte wegweisend sein für ganz Deutschland – das perfekte Management für ein System der Abschreckung. Kein Bargeld mehr in Flüchtlingshänden, Schluß mit Sozialbetrug und süßem Leben auf unsere Kosten.

Doch kaum ist das System eingeführt, da wird es unterlaufen von der simplen Notwendigkeit, auch mit wenig Geld viel Familie ernähren zu müssen. Not macht erfinderisch, das hätten sich die Urheber der Karte eigentlich denken können – erfinderisch auch jenseits einer Legalität, die es als legal definiert, Flüchtlinge zu Einkaufenden zweiter Klasse zu machen. Not macht auch ausbeutbar – das ist der schäbige Beigeschmack an der klammheimlichen Freude über das menschliche Versagen des ausgeklügelten Systems. Findige Einzelhändler machen jetzt ihren Reibach damit, daß die Kundschaft gerade nicht bei ihnen kauft, sondern zu anderen geht. Kleine Geschäfte werden zu profitablen Wechselstuben für eine Währung, die man Flüchtlingen vorenthält. Wo es bezahlter Schlepper bedarf, um überhaupt Asyl beantragen zu können, gibt es offenbar auch spätere Hilfe nicht mehr gratis.

Inzwischen weiß man kaum noch, wie viele Leute daran verdienen, daß Asylbewerber nichts verdienen dürfen. Die Kette der Profiteure dürfte jetzt noch wachsen. Nur bei den Flüchtlingen selbst bleibt trotz aller Findigkeit immer weniger hängen. Man darf gespannt sein, was sich Senatorin Hübner als nächstes einfallen läßt. Denn immerhin auf diesem Gebiet entfaltet ihre Verwaltung verbissene Energie. Nur sind in Berlin, das sei ins Gedächtnis gerufen, alle bisherigen Schikanesysteme irgendwann ins Leere gelaufen. Wertgutscheine, Vollverpflegung, Einkaufsmagazine – keine Variante konnte auf Dauer bestehen. Bloß gekostet haben sie alle: Steuergelder, Verwaltungsaufwand, Behördenarbeitszeit – und das Vertrauen der Betroffenen auf menschenwürdige Behandlung. Berlin läßt sich die Schikanierung seiner Flüchtlinge halt gern etwas kosten. Vera Gaserow