Alles Spätere war eine Sache des Glücks

■ Lächelnder Historismus und eine vielfältige Musik aus den Arsenalen der Musikgeschichte: Zum Tod des deutsch-russischen Komponisten Alfred Schnittke, der einem Schlaganfall erlag

Der wolgadeutsche Komponist Alfred Schnittke, wohl der namhafteste Repräsentant Neuer Musik in der Sowjetunion der letzten Jahrzehnte neben Edison Denissow, ist tot. In seiner Wahlheimat Hamburg erlag er am Montag einem Schlaganfall, seinem vierten seit 1985. Seit Jahren war er bereits rechtsseitig gelähmt, komponierte mühsam mit der linken Hand.

Schnittke begriff sich – nicht zu Unrecht – als Grenzgänger. Als Grenzgänger in mehrfacher Hinsicht: Er, der 1934 in der Stadt Engels am Wiesenufer der Wolga geboren wurde, hatte einen aus Frankfurt emigrierten jüdischen Journalisten zum Vater und eine katholische Mutter. Er assimilierte sich, notwendigerweise, an die russische Gesellschaft in Moskau, wo er von 1949 an als Chordirigent ausgebildet wurde (das waren die Jahre des Schdanowschen Wütens auch im Musikleben).

In den fünfziger Jahren, der Phase des ersten Tauwetters, studierte Schnittke Komposition am Moskauer Konservatorium; er trat Anfang der Sechziger mit einem Violinkonzert hervor, dann mit einer Fülle von Kammermusik und Liedern. 1980 erlaubte ihm eine Gastprofessur in Wien, Erfahrungen im Westen zu sammeln – wieder eine Grenzüberschreitung. Schnittke schrieb eine Menge Film- und Theatermusik (und das sind per se keine „reinen Gattungen“). 1981 entstand sein Ballett „Endstation Sehnsucht“, 1989 choreographierte John Neumeier in Hamburg seinen „Peer Gynt“. Da hatte der Komponist die Erfahrung einer menschlichen Grenzsituation, einer der extremsten, bereits hinter sich.

„In der Nacht vom 22. bis 23.Juli 1985 erlitt ich einen Schlaganfall“, berichtete Alfred Schnittke. „Ich lag zwanzig Tage besinnungslos und war während dieser Zeit dreimal ,dort‘ – wenn man so den klinischen Tod umschreiben darf.“ Langsam sei er wieder zu Bewußtsein gekommen, habe in „Halbträumen“ gelebt – Träumen vom Krieg und vom Norden, wo er nie gewesen sei. „Alles Spätere war Sache des Glücks – langsame Rückkehr zu Leben und Arbeit.“ Zur Arbeit an „Peer Gynt“, an einer Concerto-grosso-Sinfonie, die 1988 im Amsterdamer Concertgebouw erstmals erklang, und schließlich an seiner großen Oper über die „Historia von D. Johann Fausten“, die 1995 in der Hamburger Staatsoper uraufgeführt wurde.

Schnittkes 1. Sinfonie von 1974 war noch in hohem Maße der Zitattechnik verpflichtet. Die 2., „St. Florian“ überschrieben, reflektierte Anton Bruckners Musik und Religiosität. Seine 3. bezeichnete Schnittke als „deutsche Sinfonie“: Sie setzte sich mit den mitteleuropäischen Kompositionstechniken von Bach bis Schönberg auseinander, weithin in komplizierten Zwölftonkombinationen. In der vierten Sinfonie legte Alfred Schnittke Themen aus russisch-orthodoxen, katholischen, protestantischen und jüdischen Gesängen zugrunde. Mit der 5. Sinfonie erscheint seine „polystilistische Schreibart“ gesichert und kodifiziert – eine Schreibweise der lockeren Hand, die aus vernutztem Material der Musikgeschichte, das in die Zone von Kitsch absank, noch einmal die Funken von Tonkunst schlägt. Seine 9. Sinfonie wurde im Juni in Moskau uraufgeführt. Schnittke, der nicht mehr reisen konnte, hatte gehofft, die Aufführung im kommenden Februar in Hamburg noch zu erleben.

Partituren von fast einer Stunde Dauer oder Aphorismen für Orchester, deren kürzeste noch nicht einmal eine Minute dauern: Stets meldet sich ein ganzes Arsenal aus den Tiefen des musikhistorischen Raums. Der Historismus wird dabei stets mitgedrechselt: lächelnd, weil der Schöpfer dieser neuen Musik und wir alle in einer offensichtlich so späten Phase unserer Kultur leben. Alfred Schnittke, ein großer Kopf, der in den historischen Dimensionen der Musik dachte, ein liebenswürdiger Gesprächspartner, hat seinem Kopf vielleicht zuviel Auseinandersetzung mit den Altlasten der Tradition zugemutet. Überstrapazierte Körperteile pflegen irgendwann den Dienst zu versagen. Bei Schnittke tat es der Kopf schlagartig. So verlor die Musikwelt mit ihm einen Virtuosen des geschichtlich geschärften Schreibstils, der sich kaum mit dem Schlagwort „postmodern“ qualifizieren oder abqualifizieren läßt. Alfred Schnittke war ein Grenzgänger – im Leben wie in seiner Kunst. Frieder Reininghaus