Täglich werden an Italiens Küsten Hunderte Menschen aufgegriffen. Nach glaubwürdigen Schätzungen befinden sich inzwischen 500.000 illegale Einwanderer im Land. Die Behörden spielen die Zahl herunter, um Vorhaltungen etwa aus Deutschland zu begegnen. Aus Rom Werner Raith

Italienische Mogelpackung für Europa

Für die Beamten des italienischen Außenministeriums reduziert sich das Problem auf die Zahlen. Sind es zehntausend, zwanzigtausend, fünfzigtausend oder gar schon mehr als hunderttausend Menschen aus den Balkanländern oder Hinterindien, Zentralafrika oder dem Maghreb, die inzwischen illegal im Land herumgeistern? Die jede nur denkbare Arbeit annehmen und in letzter Zeit immer rabiater werden, wenn die Polizei sie aufgreift und zwecks Abschiebung in Sammellager steckt. „Die Zahlen sind eminent wichtig“, erklärt ein Ministerialrat. „Weniger weil wir, je mehr es sind, um so mehr Mühe haben, mit ihnen fertig zu werden, sondern weil wir, sobald bestimmte Limits überschritten werden, von unseren ,Freunden‘ in der EU in die Pfanne gehauen werden.“ Derzeit liege die Schmerzgrenze bei 50.000.

Italiens Außenminister Lamberto Dini hat Anfang dieser Woche denn auch geradezu dankbar einen Artikel des Hamburger Spiegel aufgegriffen und übersetzen lassen, wonach sich laut Schätzungen der Polizei auch in Deutschland etwa 50.000 illegale Einwanderer aufhalten. „Bis zu dieser Höhe wird uns der deutsche Innenminister Kanther nun wohl in Ruhe lassen“, so ein Beamter des Außenministeriums in Rom.

Derlei politische „Rücksichten“ sind auch der Grund, warum eine Delegation der ständigen Überwachungskommission zur Einhaltung des Schengener Abkommens – in dem die totale Öffnung der Grenzen zwischen den meisten EU- Staaten beschlossen wurde – einen einigermaßen milden Bericht über die illegale Zuwanderung verfaßt hat. Einige Mitglieder hätten dabei jedoch deutlich gegrummelt, erinnert sich der Beamte. „Viel können wir uns da nicht mehr leisten.“

Natürlich wissen nicht nur Italiens Politiker, daß die Dinge in Wirklichkeit ganz anders liegen und daß man sich um eine Lösung auf Dauer nicht herummogeln kann. Bisher aber sind die Entscheidungsträger ebenso wie die Fachleute noch weit von einer gemeinsamen Position entfernt. Das fängt schon bei einer realistischen Bestandsaufnahme an. Nach glaubwürdigen Schätzungen leben in Italien nicht 50.000, sondern gut 500.000 Illegale – Zahlen, von denen auch das Sozialministerium ausgeht. Allerdings hält sich ein Großteil nur vorübergehend im Lande auf, etwa im Sommer als Verkäufer am Strand oder als Erntehelfer von Mai bis Oktober.

Das trifft insbesondere auf Zuwanderer aus Nordafrika zu. „Die verschwinden wieder, wie sie gekommen sind“, stellte jüngst Sozialministerin Livia Turco in einem Bericht an den Ministerpräsidenten fest. „Und im Gegensatz zur Einwanderung aus anderen Ländern, wo sich bei jedem sogleich auch die Frage der Wohnung und der medizinischen und sozialen Versorgung ergibt, fällt diese Gruppe kaum ins Gewicht.“

Die meisten illegalen Einwanderer aus Tunesien, Marokko, Algerien oder Libyen schlafen in verlassenen Bauernhöfen, Rohbauten oder in improvisierten Plastikzelten. Und da sie nur den Sommer über da sind, ist auch die Wahrscheinlichkeit wetterbedingter Krankheiten wie Grippe oder Erkältung gering. „Alles in allem“, so der Rat des Sozialministeriums in Rom an die „Freunde“ in der EU, „sollten all jene, die über unsere ,offenen Grenzen‘ herziehen, erstmal differenzieren lernen“.

Das Herunterspielen des Problems stößt allerdings im Gesundheitsministerium auf Bedenken. Dort bereitet gerade die Fluktuation Kopfzerbrechen. „Wenn die Leute dauerhaft im Lande sind, schaffen wir es möglicherweise, sie bei Arztbesuchen auch mal ganz durchzuchecken“, sagt Ministerin Rosy Bindi. „Das Problem bei den Saisonarbeitern ist, daß die uns Krankheiten mit immer neuen Erregerstämmen einschleppen, die wir dann erst erkennen, wenn unzählige Menschen sich bereits angesteckt haben.“ So breitete sich vor fünf Jahren die schon besiegt geglaubte Tuberkulose plötzlich wieder aus – angeblich von afrikanischen Immigranten, die auf Bauernhöfen arbeiteten, auf die Kühe und andere Helfer übertragen.

Auch das Innenministerium macht die Zahlenspielerei des Außenressorts nicht so gern mit. Polizeiminister Giorgio Napoletano hat zudem bei den neuerdings anlandenden Einwanderungswilligen eine „merkwürdige neue Tendenz“ erkannt: Viele Trecks würden den Behörden „regelrecht in die Hände gespielt“. Der Verdacht der Beamten: „Die wollen binnen Kürze unsere Aufnahmelager überquellen lassen, erst dann beginnen ja die wirklichen Schwierigkeiten.“

Was man im Falle des Albanien- Exodus vor sechs und vor zwei Jahren noch mit einer „Befriedungsaktion“ unter UNO-Leitung aus der Welt zu schaffen vermochte, greift natürlich nicht mehr, wenn gleichzeitig Tausende aus ganz verschiedenen Ländern hereindrängen: aus Marokko und Tunesien, aus Libyen und Algerien, aus Äthiopien, Somalia, Zentralafrika. In keiner der vergangenen Wochen, so zählten Polizei und Marine, seien weniger als 2.500 Personen beim illegalen Einwanderungsversuch gefaßt worden. Die angebliche Wiederabschiebung von 18.000 illegalen Immigranten seit Jahresbeginn ist dagegen tatsächlich nicht mehr als eine Schaufensteraktion.

Die Regierung Prodi versucht das ganze nun zunächst in bilateralen Verhandlungen mit den „Entsenderstaaten“ zu steuern – ein nahezu aussichtsloser Versuch. Denn wo immer Außenminister Dini auch hinkommt – die Regierungen sind nur dann willig, ihrerseits Auswanderer schon an der eigenen Grenze zurückzuhalten, wenn Italien reichlich Hilfsgelder verspricht. Und kaum hat Dini das eine Land zufriedengestellt, verlangt der Nachbar schon mehr. „Zu lösen ist das Problem wirklich nur, wenn die EU eingreift, und zwar sehr schnell“, moniert Prodi bereits seit geraumer Zeit. „Aber die meisten Regierungen tun so, als sei das ganz allein eine italienische Angelegenheit.“