Zehn Tote nach Gefängnisprotest in Tibet

■ Menschenrechtsgruppe: Gefangene forderten beim Besuch einer EU-Delegation Unabhängigkeit

Berlin (taz) – Mindestens zehn tibetische Gefangene sind nach Protesten gegen die chinesische Herrschaft in Tibet im Zentralgefängnis von Lhasa ums Leben gekommen. Dies berichtete gestern das Tibet Informationsnetzwerk in London unter Berufung auf ungenannte Quellen in der tibetischen Hauptstadt. Demnach seien ein gefangener Mönch und ein anderer Tibeter vom Wachpersonal des Drapchi-Gefängnisses erschossen worden. Außerdem seien fünf Nonnen und drei Mönche nach den Gefangenenprotesten am 1. und 4. Mai zu Tode gekommen.

Die Proteste hätten bei einem Fahnenappell am 1. Mai, dem ersten Tag des Tibet-Besuchs einer EU-Delegation, begonnen. Zunächst habe ein Gefangener Parolen zugunsten des Dalai Lama und der Unabhängigkeit Tibets gerufen. Politische Gefangene hätten in den Protest eingestimmt. Das Wachpersonal habe mit Warnschüssen reagiert und die Gefangenen verprügelt. Unter ungeklärten Umständen seien dabei zwei Gefangene erschossen worden.

Am 4. Mai, als die aus den Botschaftern Großbritanniens, Österreichs und Luxemburgs bestehende EU-Delegation das Gefängnis besuchte, sei es zu einem zweiten Protest gekommen. Über 60 Gefangene hätten Parolen gerufen, was wiederum vom Gefängnispersonal gewaltsam beendet wurde. Später seien acht Personen an den Folgen innerer Verletzungen gestorben. Die chinesischen Behörden erklärten, die Gefangenen hätten Selbstmord verübt.

Von den Protesten hatte die EU-Troika nichts bemerkt. In dem der taz vorliegenden Delegationsbericht wird allerdings eingeräumt, daß den Diplomaten ein Briefing unter freiem Himmel merkwürdig vorgekommen sei. Zuvor von den Chinesen am Gefängnisbesuch geäußerte Zweifel werteten die Diplomaten als „Verhandlungstaktik“. Im Gefängnis selbst stellten sie keine besonderen Sicherheitsmaßnahmen fest. Die Botschafter sahen einen leeren Zellenblock, den sie als „relativ komfortabel“ beschrieben. Die EU-Delegation stand auch im Zusammenhang damit, daß in diesem Frühjahr die EU-Staaten darauf verzichteten, eine Verurteilung Chinas vor der Menschenrechtskommission der UN zu erwirken.

Bereits mehrfach haben tibetische Gefangene versucht, bei internationalen Besuchen Unabhängigkeitsparolen zu rufen, zuletzt im Oktober 1997 beim Besuch einer UN-Delegation. Menschenrechtsorganisationen kritisieren zunehmen solche Besuche. Während die Besucher dabei ein wohlpräpariertes Gefängnis zu sehen bekämen, gingen die Gefangenen hohe Risiken ein. Sven Hansen