Erinnerung an das Blechzeitalter

Blaskapellen waren das Heavy Metal des letzten Jahrhunderts. Durch Militär und Missionare gelangten sie als „marching bands“ nach Übersee. Relikte dieser Zeit finden sich jetzt auf mehreren Tonträgern wieder  ■ Von Christoph Wagner

Der alte Glanz ist ab. Nicht nur in Deutschland scheint die große Zeit der Blasmusik vorbei. Dabei waren die Blaskapellen ein Jahrhundert lang die Matadore der Tanzböden. Zwischen 1850 und 1950 beherrschten sie unangefochten die populäre Musik in Europa. Was das Symphonieorchester für das Bürgertum darstellte, war die Blechmusik für die „kleinen Leute“. Vor der Erfindung von Radio und Schallplatte bildete sie für die Unterschichten oftmals den einzigen Kontakt mit Musik überhaupt. Dabei reicht die Geschichte der Blechmusik nicht weit zurück.

Erst in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts kamen Blechformationen in Mode. Es hatte zuerst der Erfindung der modernen Ventilinstrumente in den 1820er Jahren bedurft, um das Modell Blasorchester als homogenen Klangkörper entstehen zu lassen. Meist waren es entlassene Militärmusiker, die in ihre Dörfer zurückkehrten und Gruppen aus der Taufe hoben, um bei Hochzeiten, Kindstaufen und Kirchweihen „aufzuspielen“. Solche Feiertagsformationen waren gewöhnlich klein und hatten selten mehr als sechs, sieben Mitglieder. Doch es gab auch größere Besetzungen. Manche Stadt-, Werk- oder Feuerwehrkapelle umfaßte zwei Dutzend Musikanten oder mehr.

Der Durchbruch der Blechbläser hatte mit einer Schwäche der alten Tanzmusik zu tun. Immer waren die Ensembles zu leise und gingen im Festtagstrubel unter. Der neue Bläserklang bot Abhilfe. Als „Heavy Metal“ des 19. Jahrhunderts konnte eine Blechformation im größten Wirtshauslärm bestehen. So begannen Trompete, Kornett, Flügelhorn und Althorn allmählich den Holzbläserklang aus Piccolo-Flöten, Serpent und Bombardon zu verdrängen. Doch nicht überall stieß der neue Sound auf positive Resonanz: Lärmgeplagte Städter, die in den Bergen Stille und Erholung suchten, beschwerten sich über die „Ruhestörung“. Die Zeitschrift „Der Alpenfreund“ klagte 1871 über „ohrenbetäubende Blechmusik von einem Dutzend Gestalten mit horriblen Blechinstrumenten, die von ihnen auf schaudererregende Weise gehandhabt werden“.

Bei der Infiltration der Volksmusik konnten sich die neuen Blechinstrumente nicht immer vollständig durchsetzen. Manchmal erwies sich das alteingesessene Instrumentarium als äußerst resistent und zählebig. Dann kam es zum Kompromiß zwischen Tradition und Moderne, indem sich die neuen Klangerzeuger einfach unter die traditionellen lnstrumente mischten, ohne sie zu verdrängen. Blasorchester im nordspanischen Katalonien oder in Makedonien umfassen bis heute neben Trompete, Posaune und Tuba auch Schalmeien und Einhandflöten als Relikte vorindustrieller Zeit.

Bei der Ausbreitung der Blasmusik um die Welt arbeiteten der Kolonialismus der europäischen Großmächte und der Missionseifer der christlichen Kirchen Hand in Hand. Im Troß der Besatzungsarmeen waren Militärkapellen in die unterworfenen Länder in Übersee gekommen. Sie sollten Staatsakten und Aufmärschen Glanz und Bedeutung verleihen. Durch ihr martialisches Auftreten, die Uniformen und die Wucht des schmetternden Klangs avancierten sie zu einem Symbol kolonialer Macht. In den Regimentskapellen wurden auch Einheimische mit den neuen Blechinstrumenten vertraut gemacht, wodurch Trompeten, Posaunen und Hörner allmählich in die lokalen Volkmusikstile einsickerten.

In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts waren die ersten britischen Regimentskapellen nach Indien gelangt, wo sie sich schnell verbreiteten. Nach der Unabhängigkeit 1947 wurden die meisten dieser Militärorchester aufgelöst. Plötzlich ohne Job, gründeten die entlassenen Armeemusiker eigene Ensembles, deren Mitglieder meistens aus demselben Regiment stammten, was der Blasmusikbewegung in Indien enormen Auftrieb gab. In Neu-Delhi stieg die Zahl der Blaskapellen auf ungefähr eintausend an. Ob Hochzeit, Tauffest, politische Versammlung oder religiöse Prozession – auf ein Blechensemble will niemand verzichten. Erst eine Blaskapelle macht eine Feier zu einem Fest. Unter der Protektion der Kolonialmächte waren Missionare in Übersee aktiv. 1861 war die erste Abordnung der Rheinischen Mission nach Sumatra (Indonesien) gekommen, die in großer Zahl Angehörige des Volkes der Batak zum protestantischen Glauben bekehrte. Anstatt im Gottesdienst Orgel zu spielen, stellten die Missionare eine Blaskapelle zusammen, die den Gesang begleitete. So kamen auf Sumatra westliche Blasinstrumente wie Trompeten und Hörner in Gebrauch, die direkt aus Deutschland importiert wurden und bis heute ihren Dienst tun. Protestantische Choräle werden damit ebenso angestimmt wie traditionelle Melodien. Die Bandmitglieder sind in der Regel Hobbymusikanten, die im Hauptberuf als Bauern arbeiten. Doch obwohl die meisten Noten lesen können, spielen sie die Stücke lieber aus dem Gedächtnis.

In den Nordosten von Lateinamerika gelangte das Blech mit der Herrnhuter Brüdergemeine, die mit ihrem radikalen Protestantismus nur in Surinam Fuß fassen konnte. Die Herrnhuter Missionare waren im Schlepptau der holländischen Kolonialmacht nach Südamerika gekommen, was sie allerdings nicht davon abhielt, bald in Predigten gegen die Sklaverei Stellung zu beziehen. Das brachte ihnen Sympathien ein, weshalb heute noch Hymnen aus dem Herrnhuter Gesangsbuch in Surinam hoch im Kurs stehen und oft von Bläsergruppen im Gottesdienst intoniert werden. Die Blasmusiktradition im westafrikanischen Ghana geht dagegen auf englische Methodisten zurück. Sie richteten Schulen, landwirtschaftliche Fortbildungsstätten und Handelszentren ein. Die Frischbekehrten wurden angehalten, ihre Dörfer zu verlassen und in den neu eingerichteten Siedlungen zusammen zu wohnen. Dort war das traditionelle Trommeln verboten. Als Ersatz wurden Blaskapellen organisiert, die bis heute häufig ein Anhängsel von Schulen oder kirchlichen Jungmännervereinigungen geblieben sind. Allerdings erwuchs in Ghana aus dem Zusammenprall der Musikkulturen keine Synthese, sondern es kam zu einem Nebeneinander der beiden Traditionen. In ein und derselben Musik führten anglikanische Hymnen und afrikanische Trommelrhythmen ihr Eigenleben fort.

In keinem anderen Land der Erde erreichte die Blasmusik eine solche Popularität wie in den USA, wo die Blechkapellen der deutschen, böhmischen und italienischer Einwanderer miteinander wetteiferten. New Ulm, die größte deutsche Siedlung in Minnesota, war lange Zeit als „Oompah Town“ bekannt. Ob bei Straßenparaden, Auftritten der Heilsarmee oder im Zirkus – immer sorgte Blechmusik für Unterhaltung. Schon Mitte des vorigen Jahrhunderts gab es in Amerika über 3.000 Orchester, deren Zahl 1890 auf 10.000 angestiegen war, um sich in den nächsten zwei Jahrzehnten noch einmal zu verdoppeln. Damit besaß jede Gemeinde in den USA eine, wenn nicht gar mehrere Blaskapellen. Und die spielten nicht nur Marschmusik, sondern auch Mozart und Beethoven sowie Jazz. Denn auch die afroamerikanische Musik aus New Orleans verdankt sich zur Hälfte der Blechmusik. In den dortigen „Marching Bands“ lebt die Tradition der Militärkapellen fort.

Platten: Frozen Brass/Asia: Anthology of Brass Band Music, Vol.1. Pan Records PAN 2020CD.

Frozen Brass/Africa & Latin America: Anthology of Brass Band Music, Vol.2. Pan Records PAN 2026CD.

La Banda: Traditional Italian Banda/Banda and Jazz. 2-CD-Set. Enja Records ENJ-9326 22.