Verzweifelter Kampf gegen die Fluten des Jangtse

■ Die chinesische Regierung läßt Gebiete überschwemmen, um Industriemetropole vor dem Hochwasser zu retten. Mehr als 13 Millionen Menschen wurden evakuiert

Berlin (taz) – In China ist jeder fünfte Mensch von dem seit Wochen andauernden Hochwasser unmittelbar betroffen: 240 Millionen. Das entspricht der Anzahl der Bevölkerung in den USA. Im zentralchinesischen Wuhan wird jetzt die vierte Hochwasserwelle erwartet. Mit Deichöffnungen und -sprengungen oberhalb der Industriemetropole versuchen die Behörden eine Überflutung der 7-Millionen- Stadt am Jangtse zu verhindern. Die Bevölkerung wurde nach Agenturangaben auch unter Zwang evakuiert.

Auch in der flußabwärts gelegenen Stadt Jiujiang droht eine Eskalation. In der Stadt sind nach einem Deichbruch bereits weite Gebiete überflutet. Gestern mittag wurden auch im Kreis Jianli, 150 Kilometer flußaufwärts von Wuhan, die Deiche geöffnet. Das berichtete die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua. Von der Überflutung des 180 Quadratkilometer großen Gebietes erhoffen sich die Behörden eine Senkung des Hochwassers bei Wuhan um 10 bis 25 Zentimeter. Von der Zentralregierung in Peking noch nicht entschieden war gestern eine weitere Deichöffnung 200 Kilometer flußaufwärts im Kreis Gongan. Dort sollen bereits 550.000 Menschen aus dem 1.000 Quadratkilometer großen Überflutungsgebiet vorsorglich evakuiert worden sein. Bereits am Freitag waren offiziellen Angaben zufolge an 104 Stellen künstliche Durchbrüche in Nebendeichen geschaffen worden, um Wasser abfließen zu lassen.

Laut Xinhua haben im Kreis Jianli die Verantwortlichen schon am Samstag die Überflutung des Gebiets angeboten. Doch nicht alle 50.000 Betroffenen wollten sich evakuieren lassen. Die Behörden benötigten „einige Zeit, um sie zu überzeugen“. Dorfbewohner sollen die Polizei mit Hacken und Schaufeln angegriffen haben, als sie geräumt werden sollten.

Bereits vor Tagen wurde für das vom schwersten Hochwasser seit 1954 betroffene Gebiet eine Nachrichtensperre verhängt. Die offiziellen Medien berichten hauptsächlich über den Einsatz der mehreren hunderttausend Soldaten, die mit Bannern und Parolen an der Hochwasserfront kämpfen. Offiziell wird noch immer eine Zahl von nur 2.000 Toten angegeben. Beobachter nennen diese Zahl viel zu niedrig.

Am Freitag abend war bei der Großstadt Jiujiang ein Deich zunächst auf einer Länge von 40 Metern gebrochen. Als Soldaten und Helfer versuchten, den Wasserdruck durch die Versenkung von acht Flußkähnen zu dämpfen, rammte ein Kahn den Deich und riß ihn weiter auf. Teile der 500.000-Einwohner-Stadt sollen jetzt bis zu zwei Meter unter Wasser stehen. Während die Behörden behaupten, es habe bei dem Deichbruch keine Opfer gegeben, berichtete ein lokaler Journalist, von den 40.000 betroffenen Bewohnern hätten die Behörden am Samstag erst 20.000 als Überlebende registriert. Er selbst habe überall Leichen in den Fluten gesehen.

Die Sicherung der Deiche wird zunehmend durch Materialmangel erschwert. So mußten die Helfer in Jiujiang Säcke mit Reis, Sojabohnen und Kohle ins Wasser werfen, um den gebrochenen Deich zu flicken. Inzwischen werden aus ganz China Eisenbahnzüge mit Material herangekarrt, um die 64.000 Kilometer langen Jangtse-Deiche, darunter 13.300 Kilometer Hauptdeiche, zu verstärken. Nach offiziellen Angaben mußten bisher 13,8 Millionen Menschen evakuiert werden. Das seit Wochen andauernde Hochwasser zerstörte bisher über 5 Millionen Behausungen, 12 Millionen wurden beschädigt. Sven Hansen

Tagesthema Seite 3