Die Kranken werden eliminiert

■ Der Landesgesundheitsbericht zeigt: Es gibt häufiger Geburten mit „Altersrisiko“. Damit steigen auch vorgeburtliche Eingriffe

Mit 35 Jahren gehört frau zum alten Eisen. Zumindest wenn sie sich in ärztliche Betreuung gibt, weil sie schwanger ist. Denn mit 35 Jahren, das weiß sie spätestens nach dem ersten Arztbesuch, gehört sie zur Risikogruppe. Die Möglichkeit, daß sie ein mongoloides Kind auf die Welt bringt, steigt.

Und schon ist frau drin im Getriebe. Im medizinisch-technischen; mindestens so sehr aber im psychisch-moralischen. Daß davon immer mehr Frauen betroffen sind, zeigt jetzt der kürzlich von der Senatorin herausgegebene Landesgesundheitsbericht: Waren es 1980 vor allem Frauen zwischen 21 und 28 Jahren, die Kinder gebaren, so hat sich heute die Kleinfamilienplanung gen dreißigstem Lebensjahr verschoben. Und die Geburten im 35. Lebensjahr haben sich beinahe verdoppelt.

Also nichts wie hin zur GynäkologIn: Erst zum Ultraschall und zur Blutuntersuchung im Triple Test und dann schnell noch die Fruchtwasseruntersuchung im Anschluß. Das Routineprogramm gynäkologischer Vorsorge rollt ab – zum Teil auch mal ohne Wissen der werdenden Mutter. Fragt sich nur, so kritisch die Mitarbeiterinnen der Bremer Beratungsstelle für vorgeburtliche Diagnostik, Cara, was eigentlich das Ziel dabei ist. Denn eigentlich sind sich ÄrztInnen und BeraterInnen einig: Heilend kann man in den Bauch der werdenden Mutter kaum eingreifen – schon gar nicht, wenn die Untersuchung die Wahrscheinlichkeit eines genetischen „Defizits“ wie bei der Trisomie 21 ergibt.

„Nicht die Krankheit (der Föten) wird behandelt, sondern die möglichen Krankheitsträger (die Föten) werden dabei eliminiert“, so resümieren pointiert die Cara-Mitarbeiterinnen jetzt das Ziel vorgeburtlicher Diagnostik in ihrer neuesten Informationsbroschüre. Dies aber laufe auf eine versteckte „Selektion“ hinaus: Im vierten Monat, auf der Schwelle zur Lebensfähigkeit, werden behinderte Föten abgetrieben – aus medizinischen, genauer: aus eugenischen Gründen.

Die Frauen – manchmal auch ihre Männer – aber geraten so in ein merkwürdiges Dilemma. Einerseits wird die medizinische Betreuung immer subtiler und zielt auf eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung des dicken Bauchs. Risiken und Nebenwirkungen inbegriffen: „Die Wahrscheinlichkeit, daß es durch die Fruchtwasseruntersuchung zur Fehlgeburt kommt, ist mindestens so hoch, wie diejenige, daß eine 35jährige Frau ein Kind mit Down Syndrom bekommt“, rechnet Silke Stroth, Mitarbeiterin bei Bremens Gesundheitssenatorin vor. Doch nicht allein die zunehmende „Entmündigung“ der Mütter, so Margaretha Kurmann vom Verein Cara, sei das Resultat. Zugleich werde ihnen eine maßlose Urteilskraft zugemutet: Die Entscheidung über die Tod- oder Lebendgeburt ihrer (wahrscheinlich) behinderten Babys.

Eine ausweglose Situation, zu mildern allein durch intensive Beratung, wie die interdisziplinäre Bremer Kommission „Humangenetik“ – eine in Deutschland bisher einzigartige Einrichtung – in ihrem ersten Bericht konstatiert. Denn nicht jede Frau hat die gleiche Wahl, so Margaretha Kurmann, „die freie Wahl sowieso nicht.“ Natürlich habe sie schon mit Frauen gesprochen, die vom Glück des Lebens mit einem mongoloiden Kind erzählten. Aber das hinge nicht zuletzt vom „sozialen Netz“ ab. ritz