Chronik eines angekündigten Todes Von Carola Rönneburg

Erster Tag: Die Welt ist schön, jedenfalls auf meinem Balkon. Sanft neigt sich die halbwüchsige Sonnenblume im Wind, dreht sich die Prunkwinde um ihre Kletterhilfe, blüht die Malve. Wachst und gedeiht, meine Lieben! Ich will euch hegen und pflegen und eine Runde Düngestäbchen ausgeben.

Zweiter Tag: Bei aller Freude blicke ich doch recht traurig auf die niedrige Kapuzinerkresse – sie will ich den Blattläusen opfern, sobald dieses nichtsnutzige Ungeziefer wieder in Hundertergrüppchen in den dritten Stock vordringt. Ich widme der Kapuzinerkresse eine Gedenkminute, sage ihr aber nichts von ihrer Bestimmung.

Dritter Tag: Sie sind da. Sie sind hungrig. Sie sind Blattläuse. Wie zu erwarten war, haben sie ihr Hauptquartier im Kapuzinerkressekasten aufgeschlagen. Sie sind unsympathisch.

4. Tag: Bisher läuft alles nach Plan: Von Ausnahmen abgesehen, bleiben die Blattläuse in ihrer Kolonie. Einige wenige haben sich an die Sonnenblumen herangemacht – Abtrünnige? Strafversetzte? Hippies? Ich bleibe wachsam.

5. Tag: Bei allem Respekt: So habe ich mir das nicht vorgestellt. Die Läuse führen ein Leben in Saus und Braus, während die Kapuzinerkresse eindeutig schwächelt. Heute erste Orgien beobachtet – dekadentes Pack.

6. Tag: Die Bande hat sich über Nacht verdoppelt, wahrscheinlich eine Folge der gestrigen Ausschweifungen. Am Nachmittag verlangte ich, mit ihrem Anführer zu reden. Wies darauf hin, daß sie die Kresse nur von ihren Kindern geliehen hätten; erntete höhnisches Gelächter.

7. Tag: Ein Marienkäfer! Auf einem Malvenblatt! Ein kleines robustes Kerlchen ist er, der Todfeind der Blattlaus. Vorsichtig transportierte ich ihn zum Blattlauslager, stimmte ihn mit einem kleinen Läuselied auf seine zukünftige Aufgabe ein und ließ ihn auf die Läuse los. Er kletterte in die falsche Richtung. „Nicht auf der Oberseite nachsehen“, rief ich ihm zu. „Sie sitzen unter den Blättern und an den Stielen!“ Gemächlich bewegte er sich abwärts. „Weiter, Herr Marienkäfer, nur weiter so!“ feuerte ich ihn an. Und Herr Marienkäfer fing an, sich den Bauch vollzuschlagen... Habe ihm zu verstehen gegeben, daß er sehr gern Freunde zum Essen mitbringen darf.

8. Tag: Er ist fort. Vielleicht hat er ein Mädchen kennengelernt – auf die Käfer heutzutage ist einfach kein Verlaß mehr. Widerwärtig: In der Kapuzinerkresse wird gefeiert.

9. Tag: Großalarm! Blattläuse auf der Winde! Schieße sie mit der Wasserpistole herunter. Danach Besichtigung von Läuseland, wo Geburtenkontrolle offenbar unbekannt ist. Sind Blattläuse katholisch?

10. Tag, morgens: Jemand muß die Würde der Kapuzinerkresse wiederherstellen. Es ist ein dreckiger Job, aber einer muß ihn machen. Ich.

10. Tag, abends: Bald werden die ersten Sonnenblumen blühen. Die Malve trinkt in kleinen Schlucken vom abendlichen Umtrunk, die Prunkwinde hangelt sich wieder einen Zentimeter weiter. Eine Brise streicht über die Kapuzinerkresse. Neben ihr steht ein Glas Wasser mit etwas Spülmittel, darin einige aufgeweichte Q-Tips. Obenauf schwimmen diverse schwarze Punkte. Es ist ein ruhiger, friedlicher Sommerabend.