Das tiefgekühlte Herz

Weltreisen mit einer netten Männermörderin: Grit Poppes erster Roman „Andere Umstände“ ist eine Groteske und Gewaltphantasie über die vaterlose Gesellschaft  ■ Von Anke Westphal

Die Welt kennt so viele Gründe wie Ziele für Pilgerfahrten: Jerusalem, Mekka, Rom und sogar die Berliner Love Parade. Für Mila, eine junge und nicht unhübsche Frau mit DDR-Vergangenheit, führt die Pilgerreise nach San Francisco, auf die Golden Gate Bridge. Mila erfüllt Viktors Traum – stellvertretend. Viktor ist der Vater des Babys, das auf Milas Bauch maunzt wie eine kleine Katze. Viktor ist tot, weil er Alice, das Baby, nicht wollte und auch Mila nicht mehr begehrte, als ihr Bauch sich rundete. Mila hat Viktor nicht umgebracht, jedenfalls nicht direkt. Mila hat andere Männer getötet. Es gibt eine Mitwisserin und eine andere Frau, die etwas ahnt, eine Verrückte. Jetzt befindet sich Mila auf der Flucht. Kompliziert?

Die Idee, die Grit Poppes Debütroman zugrunde liegt, ist ganz schön: Eine Frau entledigt sich all der Männer, von denen sie enttäuscht wurde. Worin wurde Mila von ihren Liebhabern enttäuscht; wofür rächt sie sich? Den Lehrer Kraus tötet sie, nur ein Beispiel, weil er sie zurückgewiesen hat. Da ist Mila dreizehn. Viktor muß sterben, weil er Milas ultimativen Traum, ein Kind, nicht mit ihr aushält. Poppes Roman heißt „Andere Umstände“ und ist vieles. Ein bißchen Krimi, etwas Groteske und auch eine Gewaltphantasie über die vaterlose Gesellschaft.

„Andere Umstände“ entfaltet sich als Fließtext, moralfrei, manchmal naiv, in den besten Augenblicken sogar sarkastisch. Die einzelnen Kapitel sind nach Speisen geordnet, die die Ich-Erzählerin Mila eher als große Verschlingende, denn als Esserin vor dem Herrn ausweisen: einerseits Avocado, Melonen, Tütensuppe, Zwiebel, Cornflakes. Andererseits Fred, Viktor, Leo, Herr Kraus – nicht umsonst haben sie sich vor Mila gefürchtet. Milas Erwachsenwerden streckt sich über zwei Staatssysteme, doch Zeitgeschichtliches und politische Themen werden von Poppe durch den grotesken privaten Erzählkern entschärft, dessen Rahmen sie bilden. Und tatsächlich geben sie nicht mehr als den Rahmen ab.

Grit Poppe, 1964 in Boltenhagen geboren, ist die Tochter des Bürgerrechtlers Gert Poppe, der die Initiative „Frieden und Menschenrechte“ begründete. Grit Poppes Roman dürfte in seinen quasidokumentarischen Passagen durchaus autobiographische Züge tragen. Das hat Papa vielleicht enttäuscht – die naive Indifferenz der Nachgeborenen gegen die verdammten „historischen Augenblicke“.

Mila, so lernt der Leser bald, ist durchaus an ihrem privaten Glück, nicht aber an „historischen Augenblicken“ interessiert. Der Herbst von 1989, die Bürgerbewegung, der Fall der Mauer – aus der Haus- und-Alltags-Perspektive ein bizarres Bonmot. „Ein paar hundert Leute waren hier beim Brandenburger Tor. Sie lachten, tanzten, schrien, tranken. Einige brüllten ,Die Mauer muß weg!‘ Aber ich fand sie ganz gemütlich jetzt.“ Und warum auch nicht: Der „historische Augenblick“ ist abstrakt, das Konkrete aber privat. Recht hat Grit Poppe.

Die Historie bewährt sich als ein komisches Dekor auf Milas Weg, der im Jack-Londonschen Kräftemessen zwischen verletztem Wolf und krankem Mann seine Metapher findet. Mila, die Erzählerin, hat Jack Londons Bücher verschlungen. Schon auf der Flucht, nimmt sie sich doch die Zeit, Londons kalifornische Heimat zu besuchen. Auf der Rückreise nach San Francisco bleibt ein weiterer Mann tot zurück. Leichen pflastern Milas Weg, mal beherzt erzeugte Leichen, mal zufällig anfallende, und doch ist Poppes nette Mörderin keine Femme fatale. „So nahmen die Dinge ihren Lauf.“

Sie nehmen weltgeschichtlich, privat und bedauerlicherweise auch erzähltechnisch „ihren Lauf“. Die Grundidee ist, wie gesagt, hübsch: Milas private Verbrechen verwerfen sich unter den geschichtlichen Umschwüngen bis zur Bedeutungslosigkeit. Zu den großen Vorzügen von „Andere Umstände“ gehört, daß Grit Poppe ein paar Mal, in einer Art genialer Epiphanie zeigt, wie sehr die Infantilität des Aufbegehrens gegen die DDR der Infantiliät dieses Staates doch angemessen war: „Wir waren das Volk, wir durften laut sein, wir durften schreien und klatschen, auch wenn oder gerade weil Papa Staat das verboten hatte.“ Leider genügt eine gute Idee allein nicht, wenn man ein Buch schreibt. Erzählt wird in Rückblenden. Gleichmut und Komik der Erzählerin halten sich nicht ganz die Waage, was dem Roman abträglich ist. Daß die Männer Mila nicht genügen können (was ohne Zweifel ein Mittel, nämlich eine groteske Übertreibung ist), bedeutet auch, daß den Leser bald nichts Neues mehr erwartet. Ein falsches Wort führt zum Mord; ein Mord stößt den nächsten an – so geht es immer weiter, umkränzt von einigen schönen Sätzen: „Ich konnte mir Fred einfach nicht als Vater vorstellen. Zwar war sein Körper erwachsen geworden. Aber ich hielt es für mehr als wahrscheinlich, daß er irgendwo noch Knallerbsen bei sich trug.“ Die Vergangenheit hängt auch Mila weiter an — auch eine Metapher. Am Ende erinnert man sich vor allem an Milas unglaubliche Gebärlust. Sie wird und wird erst einmal nicht schwanger, doch aus ihren Brüsten tropft Milch. Ohne Zweifel das stärkste Bild.

Grit Poppe: „Andere Umstände“. Roman, Berlin Verlag, Berlin 1998, 302 Seiten, 36 DM