Ein Fluß kehrt zurück

Es ist das letzte urwüchsige Feuchtgebiet Europas – das Donaudelta. Unter dem Regime Nicolae Ceauçescus wurde die Flußlandschaft systematisch trockengelegt und versalzte so sehr, daß nur wenige Fisch- und Vogelarten überlebten. Seit der Wende versuchen Wissenschaftler in Rumänien mit einfachen Maßnahmen, das Labyrinth aus Inseln, Brackwasser und Schilf zu renaturieren. Mit Erfolg – Seidenreiher, Bachstelzen und Zander sind zurück. Die Einheimischen hoffen derweil auf Touristen  ■ Von Silvia Plahl/Aleander Musik (Text) und Kay Michalak/Laura
Marina (Fotos)

In kniehohen Gummistiefeln stochert der Mann im Feuer, wendet Fisch im Rauch. Sein Kumpel rasiert sich. Gemüsegärtchen, Feuerstelle, Zelt, ein Tisch mit zwei Stühlen – das Sommerdomizil der beiden Fischer ist nicht gerade luxuriös auf der kleinen Insel im Donaudelta. Von Besuch lassen sie sich nicht stören, ein paar Minuten später ist der Tisch gedeckt – für sechs. Auf Blechtellern gibt es schwarzgegrillten Wels und Hecht, dazu selbstgezogene Paprika, Brot, Wasser und Wodka.

Das Eiland, auf dem sich die Fischer eingerichtet haben, liegt im ökologisch bedeutsamsten Feuchtgebiet Europas: An Rumäniens Ostspitze, an der Grenze zur Ukraine, teilt sich die Donau in drei Arme, die kurz darauf ins Schwarze Meer münden. Europas zweitlängster Fluß öffnet sich hier zu einem Delta mit vierhundert Seen und 3.400 Kilometern Kanälen auf einer Fläche von etwa viertausend Quadratkilometern. Nur zwanzig Prozent sind fester Boden, der Rest sind Wasser, Schilf und schwimmende Inseln. Das Delta als eine der jüngsten Landschaften Europas verändert sich ständig: durch Überschwemmungen und Winderosion. Um vierzig Meter wächst das Feuchtgebiet jährlich ins Meer hinein.

Zwei Städte und 27 Dörfer liegen im Donaudelta. Die meisten seiner 15.000 Bewohner leben vom Fischfang. Die beiden Fischer verlassen in den Sommermonaten nur einmal pro Woche ihre Insel, für eine Stippvisite in ihrem Heimatdorf Crisan. Dreimal pro Woche liefern sie ihren Fang an die staatliche Fischabnahmestelle. Legt Besuch an, verkaufen sie Wels, Hecht und Karpfen an privat. Unterderhand. Und zum dreifachen Preis. Doch das passiert selten. Touristen gibt es nur wenige hier.

Auch Marian Tudor und seine Bootsbesatzung sind aus anderen Gründen ins Delta aufgebrochen. Der junge rumänische Biologe will einem See nahe der Fischerklause Wasserproben entnehmen. „Wir versuchen, die Natur ins Delta zurückzuholen“, sagt er. Tudor ist mit seinen 25 Jahren der jüngste Wissenschaftler im Donau Delta Institut, das sich seit 1989 für die Rettung des letzten urwüchsigen Überschwemmungsgebietes Europas einsetzt.

Das staatliche Institut existiert seit 1970, angesiedelt im ostrumänischen Städtchen Tulcea, dem Tor zum Delta. Staatspräsident Nicolae Ceauçescu hatte seinerzeit die Aufgabe des Instituts eigenwillig definiert: Die wirtschaftliche Nutzung des Feuchtgebietes war das Planziel – was der Ausbeutung gleichkam. Riesige Flächen wurden seit den sechziger Jahren für den Ackerbau trockengelegt. Durch den Bau von Dämmen und Kanälen entstanden Polder für Landwirtschaft, Schilfabbau, Fischerei und Forstwirtschaft.

Mit verheerenden Folgen: Die Salzkonzentration der Donau stieg, nur Karpfen und Teichkarauschen konnten sich anpassen, alle anderen Fischarten verschwanden. Die größten europäischen Kolonien von Rosa- und Krauskopfpelikanen waren bedroht, und eines der letzten Rückzugsgebiete für den selten gewordenen Seeadler auch. Ein übriges taten industrielle Fischzuchtanlagen, Jagd, Wilderei, unkontrollierter Tourismus, maschinelle Schilfernten und Wasserverschmutzung.

Heute, fast zehn Jahre nach dem Sturz Ceauçescus, tummeln sich wieder fünfzehn Fischarten im Donaudelta. Weiß schäumt das Brackwasser auf, als das Forschungsboot des Instituts sich seinen Weg durch die stillen Altwasser des Deltas bahnt. Mal behindern wuchernde Schilfröhrichte das Vorankommen, dann lärmt das Boot wieder vorbei an Weichholzwäldern, Riedbetten und Seerosenteppichen. An einem meterbreiten Einschnitt im Schilf halten die Wissenschaftler an. „Unser Konzept ist aufgegangen“, sagt Marian Tudor und deutet auf die Schneise. Im Mai 1994 haben Mitarbeiter des Donau Delta Instituts hier, am Polder Babina, und an drei anderen Stellen die Dämme geöffnet, und die Donau kehrte tatsächlich wieder in ihr einstiges Überschwemmungsgebiet zurück – und mit ihr die Fische.

„Es ist paradox“, sagt der Biologe, „wenn man daran denkt, wie teuer die Trockenlegung des Polders Babina war und mit wie wenig Aufwand wir daraus wieder ein fast natürliches Gebiet machen konnten.“ Vier exakt berechnete Ein- und Auslässe im Polder sorgen für ein austariertes Hydroregime der Donau, mit ihrem natürlichen Wasserverlauf bewässert sie jetzt gleichmäßig die künstliche Insel.

Erstaunlich schnell haben sich Schilf und Schwimmfarn, Libellen und Heuschrecken, Seidenreiher und Bachstelzen, Zander, Barsch und Hecht wieder in der 2.200 Hektar großen Renaturierungszone angesiedelt. Doch vier Polderöffnungen seien nicht genug, sagt Erika Schneider vom Rastatter Auen-Institut, das zur deutschen Sektion des World Wide Fund for Nature (WWF) gehört und mit dem Donau Delta Institut kooperiert. Der WWF bemüht sich seit Mitte der achtziger Jahre in seinem Programm „Grüne Donau“ um den Schutz des Flusses, in dessen Einzugsgebiet achtzig Millionen Menschen leben.

Siebzehn Länder berührt der Strom auf den 2.840 Kilometern von seiner Quelle in Donaueschingen bis zur Mündung. 1993 wurde das Donaudelta von der Unesco zum Biosphärenreservat erklärt. WWF International und das Auen-Institut starteten mit der Öffnung der Polder Babina und Cernovca ein Pilotprojekt. Das niederländische Directorate General for Public Works and Water Management Flevoland unterstützt die Renaturierungsmaßnahmen an den künstlichen Fischteichen. Und die Weltbank investiert in die Verbesserung der Infrastruktur im Delta.

Die lebt von Wasserstraßen zwischen schwimmenden Schilfinseln, den Plaur, Dünen und Sandsteppen – ab Tulcea muß aufs Schiff umsteigen, wer ins Bioreservat will. Drei Fähren verbinden die graue Hafenstadt mit den Dörfchen im Delta, die teilweise noch die Namen tragen, die Ceauçescu ihnen gab: Independenta, früher Murighiol, oder Unirea, das ursprünglich Jurilovca hieß. Der Diktator wollte die kulturelle Vielfalt des Deltas planieren; noch heute sind die meisten Bewohner Lipovener, die vor zweihundert Jahren aus Rußland flohen. Jetzt bekommen manche Orte wieder ihre russischen Namen.

Das beliebteste Ferienziel im Delta ist das Fischerdorf Crisan, zwei Stunden von Tulcea entfernt, am Sulina-Arm der Donau gelegen. An einer Seite des Kanals reihen sich dort schmucke Bauernhäuser, auf der anderen stehen das über hundert Jahre alte und einst populäre Hotel „Lebada“. Legt die Fähre in Crisan an, warten an der Mole schon Bäuerinnen, um ihre Privatzimmer anzupreisen. Sie bieten für 55.000 Lei, etwa elf Mark, einfache Schlafräume, meist ohne Bad und fließend Wasser, mit einem Plumpsklosett im Garten und vielleicht Familienanschluß. Zur Ciorba de pesce, einer robusten Fischsuppe, laden die Wirtsleute gern auch ihre Gäste ein. Eine kleine Backstube im Ort liefert mehrmals täglich frisches Weißbrot, Butter und Milch haben die drei kleinen Läden nicht im Angebot. Die Einheimischen leben autark, die Touristen müssen es ihnen gleichtun, wollen sie nicht Tag für Tag im einzigen Restaurant am Platz ein einziges Gericht verspeisen: Fisch.

Doch seit der rumänischen Revolution 1989 interessieren sich die Touristen kaum mehr für das Bioreservat am Schwarzen Meer – sowenig wie für das ganze Land. Die Zahl der ausländischen Besucher des Deltas ist um fast neunzig Prozent zurückgegangen, die der rumänischen um gut ein Drittel. Damit versiegte eine wichtige Einnahmequelle für die Bewohner des Deltas.

Die Weltbank will gegensteuern, indem sie Wasseranschlüsse, Spültoiletten und Badezimmer in den Bauernhäusern mitfinanziert. Das Planziel heißt nunmehr Ökotourismus. „Wir müssen zurück zum Tourismus von vor dreißig Jahren“, sagt Mircea Staras, wissenschaftlicher Direktor des Donau Delta Instituts. „Wenn zu viele Touristen an einer Stelle zusammenkommen, werden sie oft gefährlich, wollen etwas erleben – Bäume fällen oder Feuer machen zum Beispiel. Eine Unterkunft bei Privatleuten bietet ihnen schon von allein das Besondere, und so passen sie sich automatisch den Gepflogenheiten der Einheimischen an.“

Seit zwei Jahren unterstützt die Weltbank auch die Schulung von hundert Wärtern, wardens, die sich vor Ort um den Schutz des Deltas kümmern sollen. Peter Beale, Biologe aus Plymouth, reist mehrmals jährlich nach Tulcea, um die Ausbildung der meist jungen Männer voranzubringen. Beale beriet die Rumänen auch bei der Gründung des ersten Nationalparks in den Karpaten. „Ein warden lernt etwas über die Geologie, Geschichte und die Vegetation des Deltas, damit er Besuchern und Einheimischen zur Seite stehen kann“, sagt der Brite. Die Weltbank legt Wert darauf, daß die Männer weniger als Wächter, denn als Vermittler von Umweltbewußtsein auftreten. Keine leichte Aufgabe, sagt Beale. „Lernen wollen die wardens, aber es ist schwierig, sie zum selbständigen Denken und Handeln zu bewegen.“ Im Rumänischen gibt es kein Wort für „Training“, nur „instructi“, Drill.

In Crisan allerdings sind die Touristen noch auf sich allein gestellt. Wer nicht angelt, streift durchs Hinterland, zwischen Sandsteppen und Morast und fragt sich, wie lange der Untergrund noch trägt. Kühe, Pferde und Schafe weiden knöcheltief im Sumpf. Ein Kuhskelett bleicht in der Mittagshitze, faustgroße Kröten kauern im Schilf. Nur eine Stromleitung verweist auf menschliche Ansiedlungen in weiter Ferne. Wer neugierig auf die andere Seite des Dorfes ist, ist auf die Hilfsbereitschaft und Muskelkraft eines Ortsansässigen angewiesen, der für ein kleines Trinkgeld Touristen mit dem Ruderboot übersetzt (es ist ratsam, gleich mitzuteilen, daß man auch wieder zurückmöchte).

Ein Boot hat so gut wie jeder Deltabewohner – die Berufswahl beschränkt sich hier auf Fischer, Polizist und Lehrer. Seit August letzten Jahres erhalten die Fischer auf Nachfrage Lizenzen, um sich selbständig zu machen. Früher mußten sie ihren Fang an die staatliche Stelle abliefern. „Wir ermutigen die Männer, eine Fischereigenossenschaft zu gründen“, sagt Mircca Staras vom Donau Delta Institut. „Das ist der beste Ausweg aus dem Zwiespalt, einerseits beim Staatsbetrieb angestellt zu sein und andererseits lukrativ auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen und damit die Kündigung zu riskieren.“

In diesem Jahr muß das Institut die Karten auf den Tisch legen: Dann will die rumänische Regierung die Forschungsergebnisse sehen und entscheiden, ob sie ebenfalls in Ökotourismus im Donaudelta investiert. Unesco, Weltbank und WWF haben auch auf der ukrainischen Seite des Deltas Renaturierungsmaßnahmen in Auftrag gegeben. „Was dort passiert, wissen wir nicht“, sagt Wissenschaftler Tudor und weist nach Norden. An der Grenze zur Ukraine macht der Forschungsdrang der Rumänen halt. Westkontakte sind wichtiger.

Im Westen wirken jedoch auch die rumänischen Wissenschaftler wie Boten aus der terra incognita des Balkans. Im Deltalabyrinth leben über 2.224 Insektenarten, davon sind dreizehn neu für die Wissenschaft. Es gibt 411 Wurmarten, davon sind vier neu für die Wissenschaft. Und sogar ein Fisch schwimmt noch unbotmäßig unklassifiziert im Donauwasser.

Kay Michalak/Laura Marina, beide 30 Jahre, leben in Bremen als freie Fotografen. Die Fotos stammen aus ihrem Buchprojekt Donaudelta und Schwarzmeerküste.

Silvia Plahl, 32 Jahre, und Alexander Musik, 33 Jahre, arbeiten als freie Autoren in Bremen. Ihre Schwerpunkte sind Reisereportagen.