Die dumpfe Einsamkeit des Chats

■ Melanie McGrath hat einen Entwicklungsroman über das Leben mit dem Internet geschrieben. Das klingt modern, ist es aber nicht. Auf der Suche nach dem wahren Leben irrt die Autorin durch die Welt und findet,

Melanie McGrath ist eine ganz normale britische Mittdreißigerin: relativ gut situiert, auf der Suche nach sich selbst, ihrer Vergangenheit, ihrer Zukunft, ohne Halt im Leben. Das ist zumindest das Bild, das sie von sich schafft in ihrer Autobiographie vom Leben mit dem Internet.

Das Buch trägt den Untertitel „Reiseberichte aus einer neuen Welt“. Daß in Zusammenhang mit dem Begriff Internet der des Reisens auftaucht, ist nichts Neues. Surfen im Netz als virtuelles Reisen ist eine so zentrale wie abgedroschene Metapher. Reise ist immer Abenteuer, Lebenslust, neue Ufer. In ihrer Erzählung wendet die Autorin diese angebliche Analogie aber in eine andere Richtung. Wenn sie ihr Buch über ihre Annäherung an die Welt der Informationstechnologie einen Reisebericht nennt, dann eher in der Tradition einer wesentlich älteren Metapher: das Leben als Reise. Der Text ist auch ähnlich einer Lebens- oder besser Liebeskurve aufgebaut. Kennenlernen, stürmische Phase, Domestizierung, erste Zweifel, von anderer Seite herangetragen und, vergeblich ignoriert, Rückschlag, Ernüchterung, offenes Ende (letzteres eher wie im Film denn wie im richtigen Leben). Am Ende steht die Erzählerin da, ernüchtert, aber – endlich erwachsen.

Das ist ein elendes Klischee des Entwicklungsromans. Laut Definition führt ein solcher „zu einer gewissen Reifung der Persönlichkeit, mit psychologischer Folgerichtigkeit verfolgt und in dauernder Auseinandersetzung mit den Umwelteinflüssen in breitem kulturellen Rahmen“ („Sachbuch der Weltliteratur“). So war das schon bei Goethe, so ist das heute noch. Das mag auch an sich richtig sein, nur ist es ein wenig schal, ein neues Thema einfach in eine vollends konventionelle Form zu gießen. Natürlich ist das Leben eine Reise, natürlich stellt es eine Entwicklung dar. Um das festzustellen, braucht es aber nicht 446 Seiten Text „aus einer neuen Welt“.

Wenn das Buch etwas zu sagen hat, dann, daß der Umgang mit dem Internet den menschlichen Reifeprozeß befördern kann. Die Welten, die sich eröffnen, durch intellektuelle Chat-Groups, durch die Vorstellung, schnellsten Kontakt mit der ganzen Welt aufnehmen zu können (die für die Erzählerin zu Beginn der Handlung mit der Westküste der USA gleichzusetzen ist), durch die Erforschung der Mentalitäten der Netzadepten. Das Internet ist das Feuer, durch das die Ezählerin gehen muß, um erwachsen zu werden.

In einer Welt aufgewachsen, in der sie sich nicht beheimatet fühlt, glaubt sie in der virtuellen Gemeinschaft der E-Mail-Austauschenden einen Ausweg aus ihrer existentiellen Einsamkeit finden zu können. Sie stellt aber bald fest, daß die Offenheit – und Körperlosigkeit – der Netzwelt eine unvollständige Realität bietet, und macht sich auf den Weg, die – insbesondere jungen – Menschen, die hinter der IT-Kultur stehen, zu suchen. Der Reisebegriff wird hier ganz konkret, wenn sie, vagen Spuren folgend, nach New York, Island, Wales, Prag, Moskau und Singapur fährt. Dabei gerät die Technologie mehr und mehr in den Hintergrund, die üblichen Erlebnisse einer Alleinreisenden in den Vordergrund: viel Alkohol, viel Bedürfnis nach menschlicher Nähe. Ein zielloses Driften.

Bis sie schließlich – Vorsicht, Symbolik – an einem Sylvesterabend in Singapur landet, allein, ohne E-Mail-Botschaft in ihrer Mailbox, in einer sauberen, langweiligen Stadt. Dort ist dann Zeit zur Reflexion. Wo sonst. Martin Hager

Melanie McGrath: „Hard, soft & wet. Reiseberichte aus einer neuen Welt“. Rowohlt 1998, 446 S., 36 DM