Die russischen Aktien erholten sich etwas, auch besserte sich der Kurs des Rubel zum Dollar. Tapfer schließt Präsident Jelzin eine Abwertung der Währung aus. Doch Worte allein bewältigen die Krise nicht, die ausländischen Investoren haben d

Die russischen Aktien erholten sich etwas, auch besserte sich der Kurs des Rubel zum Dollar. Tapfer schließt Präsident Jelzin eine Abwertung der Währung aus. Doch Worte allein bewältigen die Krise nicht, die ausländischen Investoren haben den russischen Markt so gut wie verlassen.

Imitation eines Pyramidenspiels

Während eines Besuches in Nischni Nowgorod bemühte sich Rußlands Präsident Boris Jelzin gestern nach Kräften, die Finanzkrise in seinem Lande zu verniedlichen, die in den letzten Tagen die ganze Welt erschütterte. Auf keinen Fall – so polterte Präsident Jelzin – werde er seinen Urlaub wieder unterbrechen, wie schon einmal in diesem Sommer: „Sonst heißt es gleich, da in Moskau bricht alles zusammen.“

Außerdem schloß Jelzin kategorisch eine Abwertung des Rubels gegenüber dem Dollar aus. Jelzins Erklärungen hatten bisher den Aktienmarkt in Rußland noch immer stabilisieren können. In den letzten Tagen aber hat sich die Krise derart vertieft, daß Worte allein wohl kaum mehr helfen. Die Deputierten der Duma jedenfalls werden ihre Ferienorte am Montag für eine Notsitzung verlassen. Bedingung der Kommunisten und Parlamentarier: Am Beginn der Tagesordnung müsse ein Rechenschaftsbericht von Ministerpräsident Kirijenko stehen.

Der Premier selbst bewahrte sich indessen einen schönen, kindlichen Optimismus und erklärte: „Was heute hier vorgeht, hat eher psychologische als finanzielle Gründe.“ Die Preise der 50 führenden russischen Wertpapiere fielen am Donnerstag weiter um 8 Prozent – gestern trat eine gewisse Beruhigung ein.

Nach den schweren Verlusten der Vortage mußte der Handel an der russischen Aktienbörse gestern nachmittag wegen Überhitzung sogar für eine Viertelstunde unterbrochen werden. Der Aktienindex stieg im Vergleich zum Vortag um 15 Prozent. Die Handelsregeln schreiben eine Unterbrechung vor, wenn die Steigerung höher als um 14,5 Prozent ausfällt.

Der russischen Zentralbank gelang es gestern auch, den offiziellen Rubelkurs wieder in den vor einigen Jahren vereinbarten Korridor zurückzuholen und unter 6,29 Rubel pro Dollar zu drücken. Wie in der guten alten Zeit etablierten sich aber mehrere parallele Wechselkurse. Da die Moskauer Innenstadt mit mehr als ausreichend Bankfilialen gespickt ist, fiel es kaum ins Auge, daß die Nachfrage nach Tausch von Rubel in Dollars etwa doppelt so hoch war wie sonst. Die Zentralbank hatte in den letzten Tagen die Dollarkauflust der Banken gebremst, indem sie sie aufforderte, den Gegenpreis in Rubeln jeweils einen Tag im voraus zu entrichten. Gegen Abend mußten deshalb viele Passanten die Fenster der Wechselstellen unverrichteter Dinge verlassen. Panik herrschte unterdessen unter den Börsenmaklern und Spekulanten, von denen viele in Interviews zugaben, daß sie selbst nicht mehr ganz verstünden, was geschah. Nur in einem Punkt waren sie sich einig: Die ausländischen Investoren haben den russischen Markt so gut wie ganz verlassen und offenbar für lange Zeit. Von den internationalen Finanzmärkten aus betrachtet, liegt das Land erneut hinter einem eisernen Vorhang. Pawel Bunitsch, Wirtschaftswissenschaftler, Mitglied der Partei „Unser Haus Rußland“ und Vorsitzender des Duma-Komitees für Eigentum und Privatisierung, fand im Gespräch mit der taz allerdings nichts Mystisches an den Vorgängen auf den Börsen: „Unsere Politiker haben sich in Schulden gestürzt, wie Strauße ihre Köpfe in den Sand stecken.“ Bunitsch, ein Parteigänger von Ex-Ministerpräsident Tschernomyrdin, betonte dabei, daß sich die Ausgabe von Staatsobligationen, sogenannten T-Bills, erst unter dem gegenwärtigen Kabinett zum Sprengstoff entwickelt habe: „Jeder Mathematiker hätte ausrechnen können, wann diese Pyramide einstürzt.“ Noch immer sieht der parlamentarische Finanzexperte für die russische Regierung aber Möglichkeiten, Geld zu aktivieren und Zeit für die Verwirklichung ihrer neuen Steuer- und Haushaltspolitik zu gewinnen. Durch Privatisierungsauktionen, so Bunitsch, ließen sich in diesem Jahr noch mindestens drei Milliarden Dollar erwirtschaften. Außer der Möglichkeit, im Ausland weitere Kredite aufzunehmen, habe das Land auch noch genügend Reserven, um einen Teil der inflationären Obligationen gegen Eurobonds auszutauschen. Obwohl diese eine längere Laufzeit haben und weniger Zinsen bringen, würden sie von den russischen Investoren vermutlich mit Kußhand angenommen. Ohne die durchschnittlichen Gehaltsempfänger und Konsumenten zu schädigen, könne der Staaat für die übrigen Obligationen einen Zahlungsstopp verkünden – zum Beispiel für ein Jahr.

Die letzteren Maßnahmen, so Bunitsch, liefen auf eine verdeckte Abwertung des Rubel hinaus. „Aber“, so sagte er: „Die Hauptsache ist jetzt, die Interessen des Volkes nicht zu berühren. Was die Finanzkreise betrifft, so können sie eine verdeckte Rubelentwertung verkraften, und die ist bei uns auch schon längst Realität.“

Den haltlosen Handel der russischen Regierung mit ihren T-Bills kommentierte am Montag in der Wochenzeitung Nowaja Gaseta auch ein im ganzen Lande steckbrieflich gesuchter Hochstapler. Wjatscheslaw Mawrodi hatte zusammen mit seinem Bruder Sergej Anfang der 90er Jahre Hunderte von RussInnen um ihre Ersparnisse gebracht. Seine Aktiengesellschaft MMM zahlte im ersten Jahr nach ihrer Gründung märchenhafte Zinsen, weil sie anfangs dank einer cleveren Fernsehreklame mit reißender Geschwindigkeit immer neue Investoren anwerben konnte. Als die Pyramide zusammenbrach, kam es zu Straßenunruhen. In seinem Artikel argumentiert Mawrodi: Anders als die russische Regierung hätten er und sein Bruder wenigstens versucht, die Investitionen ihrer Aktionäre auch in solideren Projekten anzulegen. Sein Schluß: „Die Pyramide der kurzfristigen Staatsobligationen ist bloß eine grobe Imitation der MMM.“ Barbara Kerneck, Moskau