Ein primitiver Typ Gehirn

Theoretisch sämtliche Denkaufgaben lösen: Turing-Maschinen und die Rechenmaschinen von Konrad Zuse. Zwei Neuerscheinungen im Bereich Mathematik  ■ Von Bernhard Dotzler

Zwei Tage vor seinem 27. Geburtstag notierte der Berliner Bauingenieur Konrad Zuse (1910–1995) in sein Tagebuch: „Entscheidender Gedanke 19. Juni 37 / Erkenntnis, daß es Elementaroperationen gibt, in die sich sämtliche Rechen- und Denkoperationen auflösen lassen. / Ein primitiver Typ eines mechanischen Gehirns besteht aus einem Speicherwerk, Wählwerk und einer einfachen Vorrichtung, in der einfache Bedingungsketten von 2 bis 3 Gliedern behandelt werden können. Mit dieser Form des Hirns muß es theoretisch möglich sein, sämtliche Denkaufgaben zu lösen, die von Mechanismen erfaßbar sind, jedoch ohne Rücksicht auf die dazu erforderliche Zeit. Kompliziertere Gehirne betreffen lediglich die schnellere Erledigung von Vorgängen.“

Seit gut einem Jahr war Zuse zu diesem Zeitpunkt dabei, die „Z1“ zu bauen, eine noch rein mechanische Rechnerkonstruktion, die er bis 1941 zur ersten frei programmierbaren Rechenanlage der Welt – der „Zuse Z3“ – weiterentwickelte. Seine Ambitionen, wie er selbst einmal schrieb, waren die eines an angewandter Mathematik interessierten Ingenieurs, der von der „Konstruktion einer praktisch einsetzbaren Rechenmaschine“ träumte – und mehr als nur träumte. Reinen Mathematikern gegenüber soll Zuse verschiedenen Berichten zufolge stets mißtrauisch geblieben sein.

Unbekannt war ihm daher, daß wenige Monate vor seiner Tagebuchnotiz in England eine mathematische Abhandlung erschienen war, in der eine ideelle Maschine beschrieben wird, die in der Tat „sämtliche Denkaufgaben“ erfüllt, „die von Mechanismen erfaßbar sind“, sofern nur „die dazu erforderliche Zeit“ keine Rolle spielt: die Turing-Maschine. Sie kann im Prinzip alles – und mehr –, was die Computer können, die seit den Anstrengungen Zuses und anderer Alltag geworden sind. Sie ist das Prinzip all dieser Computer. Und als solches Prinzip ist sie ganz das, was sie tut. Jede Turing-Maschine kann restlos durch eine abstrakte Befehlstabelle beschrieben werden – beschrieben, und das heißt zugleich: hergestellt.

Entsprechend entrückt scheint die Turing-Maschine der real existierenden Computerwelt. Ihr Erfinder, Alan Turing (1912–1954), ging aus von einfachen Schulheften: „Rechnungen werden gewöhnlich in der Weise ausgeführt, daß bestimmte Symbole auf ein Stück Papier geschrieben werden. Wir wollen annehmen, daß dieses Stück Papier kariert ist, wie das Rechenheft eines Kindes.“ Nur daß die Karos nicht in Zeilen und Spalten, sondern entlang einer einzigen Zeile, in Form eines unendlich langen Bandes angeordnet sein sollen. Dieses Band wird von der Maschine Feld für Feld abgetastet. Sie kann also, menschlich gesprochen, lesen. Ferner kann sie schreiben. Oder, was sie gerade gelesen hat, löschen.

Eine Turing-Maschine besteht mithin aus einem sogenannten Schreib-/Lesekopf und einem Band, das um jeweils ein Feld nach links oder rechts verschoben werden kann, um jeweils ein Zeichen zu lesen oder zu schreiben oder auszuradieren. Das ist alles. Und es genügt auch. Denn Turing bewies zum einen, daß keine Maschine und keine Software jemals mehr zu leisten vermag als seine primitive Apparatur, und er zog zum anderen den konsequenten Umkehrschluß, daß nun auch der Mensch als eine Figur zu betrachten ist, mit der Turing-Maschinen-Ergebnisse erzielbar heißen. „Es ist möglich“, schrieb Turing, „den Effekt einer Rechenmaschine zu erreichen, indem man eine Liste von Handlungsanweisungen niederschreibt und einen Menschen bittet, sie auszuführen. Eine derartige Kombination eines Menschen mit geschriebenen Instruktionen wird ,Papiermaschine‘ genannt. Ein Mensch, ausgestattet mit Papier, Bleistift und Radiergummi sowie strikter Disziplin unterworfen, ist in der Tat eine Universalmaschine.“

Dieselbe Konsequenz zeichnet nun auch die neue „Einführung in die Theorie der Turing-Maschinen“ aus, die soeben als jüngstes Prosawerk Oswald Wieners unter Mitarbeit von Manuel Bonik und Robert Hödicke erschienen ist. Darin geht es zunächst pragmatisch um die „Einsicht“, die jeder auf dieser „Welt von Computer- Benutzern“ in die „Prinzipien seines Geräts“ haben sollte, um zu wissen, in welcher Welt er da lebt. Darin geht es sodann grundsätzlich um Einsicht in die Möglichkeit solcher „Einsicht“, insofern „jene Prinzipien zu einer soliden Basis für das Nachdenken über die Natur der Einsicht selbst geworden sind“. (Man könnte mit einem anderen Titel Wieners auch sagen: Es geht erneut um „Probleme der Künstlichen Intelligenz“.) Und darin geht es vor allem konkret um die „grundlegenden einfachen Mechanismen“, zu denen der Leser verführt werden kann. Wer sich nicht bloß der auf Diskette beiliegenden Software bedient, kann und muß sich eigenhändig die Mathematik Turings erschließen, indem er selbst mit Papier und Bleistift hantiert.

Das Buch ist nämlich gespickt mit Aufgaben. Auch erklärend, auch theoretisch – von der Basis binärer Codes bis zur höheren Mathematik von Gödels „Unvollständigkeitssatz“, um derentwillen Turing einst seine Maschine ersann — wird man zufriedengestellt. Aber das Mittun von Leser und Leserin bleibt dabei doch die Hauptsache. „Der Leser versuche, ,Maschine‘ zu definieren“, heißt es am Anfang. („Wir haben dieses Buch geschrieben, um den Leser bei dieser schwierigen Aufgabe zu unterstützen.“) Man schreibe eine Befehlstabelle, dergestalt daß... – so etwa lautet der Grundtyp der darauf folgenden Anweisungen, bis ganz am Ende ebenfalls eine Aufgabe steht, und zwar die, eine Turing-Maschine zu schreiben, die sich selber schreibt.

Es ist in jeder Hinsicht ein Kunststück, das so mit und an dem Leser vollzogen wird. Dem eiligen und darum voreiligen Blick mag diese „elementare Einführung“ – angefangen bei dieser Betitelung – als Arbeitsbuch für das Informatikgrundstudium erscheinen. Dann wäre es ein Buch für die Vielen. In Wahrheit jedoch lautet seine Dedikation wie einst bei Stendhal: „To the happy few“. Nicht umsonst geht es zurück auf Vorlesungen, die Wiener als Professor oder auch Profi an der Kunstakademie Düsseldorf gehalten hat. Profi nämlich als Wortkünstler, dem die Turing-Maschine zur gleichermaßen intellektuellen wie handwerklichen Herausforderung geworden ist.

Denn die Turing-Maschine in ihrer spartanischen Einfachheit schult vorab in der hohen Kunst der Abstraktion. Sie verhindert, daß man auf die unterschiedliche Bauweise von Computern – vom immer neuen Glanz neuer Computeroberflächen gar nicht zu reden – allzuviel gibt. So macht es im Prinzip keinen Unterschied, ob man zum Beispiel Zuses „Z3“ in Gestalt der „verschiedenen nacheinander ansprechenden Relaisgruppen“, wie die Patentschrift sie schildert, oder als die Java-Simulation vorliegen hat, die neuerdings im Internet zu finden ist (beide im zweiten hier anzuzeigenden Band dargestellt).

Aber gerade die Abstraktion, wie die Turing-Maschine sie lehrt, schärft umgekehrt auch den Blick für die Konkretion. Gerade weil sie prinzipiell keinen Unterschied machen, machen die verschiedenen Realisationen in concreto einen Unterschied. Ausgerechnet die an sich zeitlose Idee Turings gerät damit zum Propädeutikum technikgeschichtlicher Studien ebenso wie für die Kunst. Wieners „Einführung“ bemüht sich mit Erfolg, „das Interesse an der Theorie als Vergnügen an konkreten Operationen wachzurufen“. Nicht anders aber hat Wiener einst, als er noch Berliner Gastwirt war, die Aufgabe der Literatur bestimmt. Ihr Ziel, schrieb er, sei die „steuerung konkreter situationen durch den sprachgebrauch“.

Oswald Wiener, Manuel Bonik, Robert Hödicke: „Eine elementare Einführung in die Theorie der Turing-Maschinen“. Springer- Verlag, Wien, New York 1998, 283 S. + Diskette, 68 DM.

Raúl Rojas (Hrsg.): „Die Rechenmaschinen von Konrad Zuse“. Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg 1998, 221 S., 58 DM