■ Patiententötung: Die Verfügungsgewalt der Ärzte und Betreuer über den letzten Lebensabschnitt eines Menschen muß begrenzt bleiben
: Der mutmaßliche Wille

Es paßte zu gut, um wahr zu sein: Kaum hatte das Oberlandesgericht Frankfurt am Main in einem Parforceritt gegen das geltende Gesetz die Tötung von Patienten durch Entzug der künstlichen Ernährung als rechtmäßig bezeichnet, wenn sie deren „mutmaßlichen Willen“ entspricht, da beschlossen Krankenkassen und Kassenärztliche Vereinigung, die Sondernahrung (und dazu zählt auch künstliche Ernährung) aus ihrem Leistungskatalog zu streichen. So unbeabsichtigt dieses Zusammentreffen der beiden Entscheidungen war – es zeigt, daß Entscheidungen im medizinischen Sektor nicht mehr ohne eine Auseinandersetzung mit der Ökonomisierung des Krankenversorgungswesen zu bewerten sind.

Derzeit ist der Versuch, Patiententötung zu legalisieren, wenngleich der Erfolg gut ins Rationalisierungskalkül der Gesundheitsökonomie passen würde, allerdings nicht Ausdruck wirtschaftlichen Drucks, wie auch der überraschende Fortgang der Auseinandersetzung in Frankfurt zeigt.

„Ja, was denn nun?“ fragten Teilnehmer einer „Medizinethik“- Mailingliste im Internet etwas ungehalten, als die Frankfurter Justizpressestelle vor kurzem verkündete, daß die Tötung der 85jährigen Komapatientin „im Namen des Volkes“ durch Abbruch der lebenserhaltenden Versorgung, für die das Oberlandesgericht Frankfurt mit seinem spektakulären Beschluß den Weg freigemacht hatte, ausbleiben werde. Die Angehörigen hatten den Antrag auf Stopp der künstlichen Ernährung zurückgezogen. Damit haben sie den Rückzug ins Private angetreten und so verhindert, daß nun gerade der letzte Lebensabschnitt ihrer Mutter zum öffentlichen Exempel im Kampf der „Euthanasie“-Befürworter für eine rechtlich abgesicherte Möglichkeiten der Lebensbeendigung wird.

Wie es anders geht, haben vor fast zehn Jahren zum Beispiel die Angehörigen der US-Amerikanerin Nancy Cruzan vorgeführt: Durch Verträge mit der Fernsehproduktionsgesellschaft „Frontline“ und eine auch ansonsten in Zusammenarbeit mit Sterbehilfe- Gesellschaften sehr offensive Medienpolitik haben sie den Kampf für die Tötung ihrer im Wachkoma liegenden Tochter über Jahre im Brennpunkt der Öffentlichkeit geführt – bis hin zur Live-Übertragung des Moments, in dem schließlich der Sondenschlauch abgehängt wurde und die Familie, während nun das Sterben ihrer Tochter einsetzte, durch den Kordon aufgebrachter religiöser Fundamentalisten, anderer Gegner der „Hilfe zum Sterben“ und das Korps der Fotografen und Live-Berichterstatter nach Hause ging, um dort dem Kamerateam ihre Erleichterung mitzuteilen.

Die Öffentlichkeit, die die Medien herstellen, hat aber durchaus einen Doppelcharakter: Sie kann auch Legitimation fordern und neue Überlegungen in Bewegung bringen. Die Angehörigen der Frankfurter Patientin haben mit ihrem Rückzug nicht nur verhindert, daß die kranke alte Frau zum Objekt für den Talk der Medien wird und damit, als bloßer Gegenstand eines Diskurses, auf den sie selbst keinen Einfluß nehmen kann, ihrer Würde beraubt wird. Sie haben auch auf die in der Berichterstattung enthaltene Kritik an dem richterlichen Beschluß reagiert und sich so die Freiheit genommen, ihre Entscheidung zu überdenken. Das mag man kritisch sehen: Der „mutmaßliche Wille“ der alten Patientin, ließe sich unter Zugrundlegung der rechtlichen Sichtweise der OLG-Richter argumentieren, hat sich in den letzten Wochen nicht geändert, sie hätte auch keinen Anlaß, ihre Behandlung von der Resonanz darauf in der Öffentlichkeit abhängig zu machen. Diese Argumentation unterschlägt aber die Besonderheit gerade dieser Konstellationen.

Der „mutmaßliche Willen“ ist nämlich bloß eine Fiktion der Außenwelt, ein rechtstechnisches Konstrukt und nicht, wie oft behauptet, Ausdruck der Selbstbestimmung einer bewußtlosen Patientin. Die alte Frau, die im Falle, daß sie bei Bewußtsein wäre, das Recht hätte, Nahrung zu sich zu nehmen oder es auch sein zu lassen, die auch vier Tage so und dann wieder sechs Tage anders entscheiden könnte, kann in der Situation, in der sie sich befindet, ihren Willen nicht artikulieren und kann ihn damit auch nicht intellektuell wahrnehmbar ändern. Die Betreuer sind auf jeden Fall die Handelnden: Ihre Ansicht vor dem OLG-Beschluß, daß es richtig und notwendig ist, die Ernährung abzubrechen, und ihre jetzt zutage getretene Ansicht, daß die Fortführung der Ernährung besser ist, bleiben aber immer bloß eine Projektion des Willens der Frau, um deren Leben und Tod es dann tatsächlich geht. Selbst im besten Fall sind sie es, die den Tod herbeiführen wollen. Dieses Dilemma, daß der „mutmaßliche Willen“ der Betroffenen diesen eine statische Rolle zuweist, während die letztlich handelnden Personen dynamisch reagieren können, bleibt auch dann erhalten, wenn mehr und zuverlässigere Fakten über das vorhanden sind – z.B. in einem Patiententestament –, was einmal tatsächlich der Wille der Betroffenen war.

Nun wäre zu fragen, ob es schadet, daß nur den Betreuern die Möglichkeit bleibt, ihre Haltung zu verändern, daß sie die Ansicht der Patienten in eigener Verantwortung variieren und durch Änderung des Vortrages zum „mutmaßlichen Willen“ zur Geltung bringen können. Dieses Dilemma betrifft schließlich auch andere medizinische Entscheidungen. Die Herbeiführung des Todes ist aber von anderer Qualität als andere, auf Heilung, Zustandsverbesserung oder Schmerzlinderung zielende Eingriffe: Sie ist irreversibel und zerstört mit Absicht das wertvollste Rechtsgut: das Leben. Das Strafgesetzbuch stellt deswegen sogar die auf ausdrückliches Verlangen erfolgte Tötung unter Strafe. Daß die Tötung auf nur mutmaßliches Verlangen demgegenüber privilegiert werden soll, ist kaum einzusehen.

Es gibt aber auch jenseits dieser rechtlichen Einwände und der (wie ich finde, berechtigten) Mißbrauchsargumente einen gewichtigen Grund, die Patiententötung als Tabu zu erhalten, die Verfügungsmacht von Ärzten und Betreueren zu begrenzen: Nur so, durch die Betonung des Unverfügbaren und Besonderen, ist zu verhindern, daß auch der letzte Abschnitt des Lebens voll in der Routine des medizinischen und betreuungsrechtlichen Alltags aufgeht, ein von Entscheidungszwängen strukturierter Raum wird, in dem sich, je mehr das öffentliche Interesse und damit der besondere Legitimationsdruck daraus verschwinden, pragmatisch zweckgerichtetes Handeln durchsetzen wird. Oliver Tolmein