Unterbrechung der Gartenarbeit

Mit einer Inszenierung im Güterwaggon erinnern Künstler das niedersächsische Dorf Brillit an die Irrfahrt eines Transports von Kriegsgefangenen kurz vor Kriegsende  ■ Aus Brillit Stefan Kuzmany

Wer die Schleichwege kennt, ist mit dem Auto weniger als eine Stunde unterwegs: raus aus der Großstadt Hamburg, immer Richtung Westen, hinein ins Dreieck zwischen Bremervörde, Gnarrenburg und Zeven, mitten auf das flache Land, wo schwarzgescheckte Kühe auf den Wiesen stehen: Da liegt Brillit mit seinen dreihundert Bewohnern. Auf schnurgeraden Fahrradwegen neben der Bundesstraße radeln Touristen entlang, ab und zu verzögert ein Traktor die zügige Weiterfahrt. Auf abgemähten Feldern fährt die männliche Dorfjugend mit aufgemotzten Autos im Kreis, bis die Sonne untergeht: Stoppelrennen.

„Moor – Heide – Feld – Wald. Im Gnarrenburger Moor ist die Welt noch in Ordnung“, wirbt der Verkehrsverein Gnarrenburg für die Gegend. Es ist nicht leicht, Touristen anzulocken, weiß der Beauftragte für Fremdenverkehr, Wolfgang Millies (54). Da muß man sich schon etwas einfallen lassen. Die ansässigen Bauern lassen sich nur schwer dazu überreden, Urlauber aufzunehmen. An den Wegen blühen zur Saison Tausende von Osterglocken, eigens angepflanzt, um Gäste zu erfreuen. Manchmal gibt es gutbesuchte Blasmusikkonzerte. Und morgen steht eine „Theater-Inszenierung der ganz besonderen Art“ auf dem Programm, verspricht Millies in einer Pressemitteilung: Die Künstlergruppe „Das Letzte Kleinod“ aus Loxstedt bei Bremen, seit 1991 auf die Inszenierung von Räumen und Landschaften spezialisiert, gastiert am Bahnhof Brillit mit ihrem Projekt „G56. Auf freiem Felde“, einer Erinnerung an die Ereignisse der letzten Tage vor Kriegsende.

Als die alliierten Truppen im April 1945 kurz vor Bremen standen, wurden Hunderte von Zwangsarbeitern von Bremer Großbaustellen zusammengezogen und in Güterwaggons gepfercht, weil kein Gefangener lebend in die Hände der Kriegsgegner fallen sollte. Die ursprüngliche Bestimmung, das KZ Bergen-Belsen, erreichte der Zug nicht mehr. Da die Schienenstränge über weite Strecken zerstört waren, irrte der Zug tagelang durch Niedersachsen. Auf dem Bahnhof Brillit endete die Fahrt. Die wenigen Überlebenden wurden mit offenen Kipploren auf einer Feldbahn in das wenige Kilometer entfernte KZ-Auffanglager Sandbostel gebracht, wo sie einige Tage später von britischen Truppen befreit wurden. Einer von ihnen, Curt Meyer, beschrieb die Irrfahrt später den beiden einheimischen Autoren Volland und Borgsen für eine Dokumentation über das Lager Sandbostel: „Der Zug fuhr vorwärts, immer öfter ganze Strecken rückwärts, schließlich verlor ich die Orientierung und wußte nicht mehr, ob vor oder zurück. Er fuhr! Er fuhr eine Ewigkeit, in Wirklichkeit waren es vielleicht fünf Tage und Nächte. Immer ohne Essen und Trinken. Am Ende der grausamen Fahrt wurden wir ausgeladen. Wir standen da vor dem entleerten Zug. Auf freiem Felde.“

Wolfgang Millies ist ein wenig mißtrauisch, auch wenn er Offenheit signalisieren möchte: Die Mundwinkel des pensionierten Erdkunde- und Geschichtslehrers sind leicht nach unten gezogen, und während er sich unterhält, wechselt er immer wieder einen Blick mit seiner Frau, dann nimmt er einen Zug aus der Zigarre. Man möchte ja nichts Falsches sagen. Er selbst sei ja auch nur zugereist, sagt Millies. Seit achtzehn Jahren wohnt er jetzt hier auf einem wunderschönen alten Bauernhof mit großem Garten. „Was ich von den Kriegsereignissen weiß, das weiß ich von Stammtischgesprächen. Man spricht hier nicht gerne mit Außenstehenden darüber, aber ,unter uns‘ wird schon einmal darüber geredet.“

Immerhin: Die Gemeinde ist inzwischen Mitglied des Vereins „Dokumentations- und Gedenkstätte Sandbostel e.V.“; das sei auch seinem Engagement zu verdanken, auch wenn Millies – „Ich bin in der CDU, das ist nun mal so“ – die Rolle des Lagers etwas anders sieht als die „Kameraden vom Verein“. Auf der Pressemitteilung der Künstler für die Aufführung in der vergangenen Woche hat er „KZ- Auffanglager“ durchgestrichen und durch „Kriegsgefangenenlager“ ersetzt – tatsächlich waren zu Kriegende jedoch KZ-Häftlinge in Sandbostel gefangen. „So ein Lager hat ja zu jeder Zeit Verwendung“, meint Millies, in den fünfziger Jahren beispielsweise habe es als Auffanglager für Jugendliche aus der DDR gedient, die in den Westen abgehauen waren. Heute ist auf dem Gelände, neben anderen gewerblichen Betrieben, die Straßenmeisterei untergebracht. Millies rechnet nicht damit, daß sich viele Leute aus dem Ort die Inszenierung am Bahnhof ansehen werden. Und außerdem würde er mit den gesalzenen Eintrittspreisen des „Letzten Kleinods“ nicht einmal eine Blasmusikveranstaltung füllen können: „Sie werden schon sehen, da kommen nur ein paar ganz Eingefleischte. Das sind zwar Leute, die hier wohnen, aber die kommen nicht von hier.“

Maria Henken, 80 (Name geändert), arbeitete gerade mit ihrer Schwester im Garten, als der Schrecken nach Brillit kam. Am frühen Abend näherte sich in langsamer Fahrt ein langer Güterzug der einsamen Bahnhofsrampe gleich neben ihrem Gemüsegarten, hielt an, die Schiebetüren der Waggons wurden geöffnet. Vierhundert, schätzt sie heute, waren schon tot, als sie in Brillit ankamen, waren nur noch hautüberzogene, nackte Skelette. Ihre Kleidung hatten sich die anderen übergezogen, denn es war April und noch etwas kalt. Die anderen: Vor Hunger und Erschöpfung halb wahnsinnig, wankten sie ins Freie, warfen sich auf den Boden, aßen Gras und tranken aus dreckigen Pfützen, die sich neben dem Bahndamm gebildet hatten. Maria Henken war entsetzt. „Vergessen Sie denn, daß das auch Menschen sind?“ rief sie den SS-Wachleuten zu, die den Zug begleiteten. „Halts Maul und verschwinde, sonst kommst du auch noch dran!“ wurde sie angeschnauzt. Da ist Maria Henken dann schnell weggegangen.

Jetzt ist sie wieder bei der Arbeit im Gemüsegarten, als Besuch am Bahnhof Brillit eintrifft. Acht junge Leute von „Das Letzte Kleinod“ picknicken und bereiten das Gelände für die Aufführung vor. Sie sind mit dem Zug gekommen: Von der Bahn AG haben sie sich einen alten Güterwaggon geliehen, Spielfläche und Transportraum in einem, dazu einen Waggon für die Reise. Sie sind ohne Auto unterwegs und müssen deshalb zu Fuß drei Kilometer zu ihrer Nachtunterkunft gehen. Das macht aber nichts, meint eine der Schauspielerinnen: „Die mußten früher viel weiter gehen.“

Maria Henken begegnet den jungen Leuten freundlich. Neugierig guckt sie über den Gartenzaun auf das ungewohnte Treiben. Und auch von ihrer Terrasse aus hat man einen schönen Blick auf den Bahnhof, wo die Künstler gerade aufbauen. Doch sie möchte auf keinen Fall namentlich in der Zeitung genannt werden, denn sie hat ein wenig Angst: „Da könnte einer von den Nachbarn drüberfallen. Wir haben normalerweise keine Feinde, aber es könnte ja der Eindruck entstehen, wir seien deutschfeindlich. Und das sind wir ja beileibe nicht.“ Es ist kaum zu glauben, daß sie sich fürchten muß: hier, in dieser Idylle, wo die Welt noch in Ordnung ist. Herrscht im Ort denn wirklich so eine stramme Meinung? „Als diese Veranstaltung angekündigt wurde, haben sie auf dem Dorf gesagt, die Ausländer hätten viel Schlimmeres mit den Deutschen gemacht.“

Das Gerede einer alten Frau, könnte man sagen. Gäbe es nicht die Plakate der NPD, die hier in der ganzen Gegend zu finden sind. Wären nicht vor kurzem die Söhne eines Gnarrenburger Arztes zusammengeschlagen worden, nur weil sie einen Anstecker mit der Aufschrift „Wir alle sind Ausländer – fast überall“ getragen haben. Hätten nicht schon SPD-Mitglieder vor fünf Jahren Drohbriefe mit Hakenkreuzen, Postkarten und anonyme Anrufe erhalten. Im Briefkasten eines SPD-Ratsmitglieds landete ein Zettel mit der Aufschrift: „An rotes Ortsrat. Rotes Sau mit grosses Maul! Bist reif zum Schlachten. Denk an Familie. 1. Warnung.“ Eine Fraktionskollegin wurde am Telefon von einem anonymen Anrufer als Hure beschimpft. Und in der Post fand sich eine Karte: „Du alte Ratte (Mafia) die Gaskammer ist viel zu schade für dich. Nächste Sitzung mit Polizeischutz?“ Unterschrieben mit „Ortschaft Brillit“.

Maria Henken kommt nicht zu der Aufführung am nächsten Abend. Dafür macht sich ihr 86jähriger Mann auf den kurzen Weg zum Aufführungsort, für den er am Stock eine Viertelstunde braucht. Obwohl er 1945 noch nicht hier gewohnt hat, will er wissen, was die jungen Leute vorhaben. Jetzt wundert er sich: Der Bahnhof ist voll.

Es kommen die zugereisten Bildungsbürger aus der Großstadt, die sich hier ein Häuschen im Grünen gekauft haben, dazu einige Touristen, nur wenige Einheimische. Kurz vor Beginn der Aufführung muß Regisseur Jens- Erwin Siemssen noch einige Bierbänke besorgen, damit Spätgekommene zumindest eine trockene Sitzgelegenheit haben. Ganz am Rand sitzt Wolfgang Millies, auch im Getümmel gut am aufsteigenden Rauch seiner Zigarre zu erkennen.

Die Zuschauer sind begeistert von der Kraft der Bilder, der authentischen Kulisse und dem eindringlichen Spiel der Künstlergruppe. Der Waggon wird rangiert, Augenzeugenberichte werden rezitiert, dazu musizieren und tanzen die Schauspieler. Ein gelungener Abend, das Fernsehen war auch da. Jens-Erwin Siemssen: „Ein tolles Dorf, wir hatten sehr gute Reaktionen. Kann ich weiterempfehlen.“ Wolfgang Millies ist plötzlich wie ausgewechselt. Aufgeregt läuft er nach der Aufführung zwischen Journalisten, Fotografen und Zuschauern hin und her, findet kaum noch Zeit für Worte: „Großartig. Und dann heißt es, das sollten wir öfter machen, aber das kann man nicht öfter machen... Radio Bremen! Aber wir müssen unbedingt noch gemeinsam einen trinken gehen...“ Und weg ist er wieder.

Der Bahnhof leert sich bereits, da kommt Maria Henken, um ihren Mann abzuholen, der als einer der letzten auf der Zuschauertribüne sitzen geblieben ist. Sie freut sich, daß doch so viele Leute gekommen sind. Sie nimmt ihn am Arm, und gemeinsam macht sich das Paar auf den Heimweg, vorbei an den abfahrenden Autos der Besucher. „Wissen Sie“, sagt sie unterwegs, „mir geht das alles noch viel zu nahe. Ich wollte das nicht noch einmal sehen.“ Außerdem sei das alles ja viel zu anstrengend. Morgen will sie wieder früh aufstehen: Die Gartenarbeit wartet.