■ Schlagloch
: Berlin - immer einen Schritt voraus Von Nadja Klinger

„ Dit is ja wie Disneyland“

Eine Berlinerin zur Gedenkstätte Berliner Mauer

In der Ackerstraße in Berlin- Mitte scheißen die Hunde direkt vor die Türen. Wer von den Anwohnern morgens aus dem Haus tritt, erwischt den Dreck mitunter ganz frisch. Natürlich entwickelt man einen gewissen Blick und versucht, sozusagen, über die Unannehmlichkeiten wegzugehen. Man macht einen großen Schritt. Aber meistens bringt das nichts. Denn auch einen Meter weiter haben, wie überall in Berlin, die Hunde hingeschissen.

An ihrem nördlichen Ende jedoch, wo sie auf die Bernauer Straße trifft, unterscheidet sich die Ackerstraße von anderen Orten in der Stadt. Hier kann man zu jeder Tageszeit zwischen mehreren Parkplätzen wählen, wo man das Auto abstellt. Was das angeht, ist es hier irgendwie immer noch wie im Sperrgebiet, wie in einer leblosen Gasse, die an der Staatsgrenze versackt. Tatsächlich aber führt sie nicht mehr an die Mauer, sondern in ein Wohngebiet. Die Erklärung ist also unspektakulärer: Die Leute von dort, die aus dem Westen, stellen ihr Auto nicht in Mitte ab. So wie die aus dem Osten ihre Hunde nicht in den Wedding führen.

An der Ackerstraße, Ecke Bernauer Straße wurde dieser Tage eine Gedenkstätte eingeweiht. Für 2,3 Millionen Mark sind 70 Meter Berliner Mauer wiederauferstanden. Sie werden beiderseitig von sieben Meter hohen Stahlwänden begrenzt, in denen sich der Wall bis ins Unendliche spiegelt. Über die Menschen, die den Ort bereits besucht haben, berichten die Berliner Zeitungen, daß sie nicht zufrieden seien. Eine Frau, die gegenüber wohnt und fast 30 Jahre aus ihrem Fenster auf Wachtürme, Todesstreifen, Stacheldraht gesehen hat, die Zeugin von dramatischen und tragischen Fluchtszenen war, sagt, ihr seien die Stahlwände zu verrostet. „Dit soll die Mauer sein, dit kleene Stückchen?“ ruft eine andere Berlinerin in den Abendnachrichten des Fernsehens. Aufgeregt dreht sie sich um sich selbst. Sie hat mehr Grusel und Schrecken erwartet. „Aber dit is ja wie Disneyland“, sagt sie.

Ihre Erwartungen sind grotesk. Sie passen zu Berlin. Denn die Stadt ist reichlich bemüht, sich zu inszenieren. So erinnert die Gedenktafel an der Bernauer, Ecke Ackerstraße nicht, wie ursprünglich vorgesehen, schlicht an die Teilung, sondern erwähnt zudem „die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft“. Dazu, daß die Mauer schneller verschwand, als die Berliner begriffen, was das Leben ohne sie bedeutet, dazu, daß die Menschen in beiden Teilen der Stadt den Todesstreifen ebenso konsequent veröden ließen wie ihre Erinnerungen an die DDR, bekennt Berlin sich nicht.

Es beschränkt sich auch nicht darauf, den fragwürdigen Umgang mit der Vergangenheit mit einer Geste sinnbildlich zu korrigieren: Die Mauergedenkstätte soll kein Ort der Besinnung sein, sondern „die Verantwortlichen benennen“, kein Ort der Rast, sondern ein Schauplatz, keine Stelle der Vernunft, sondern ein Anziehungspunkt. Dieses Bestreben überfordert die Berliner Politik. Auch das versucht sie zu überspielen.

Doch ihre Hilflosigkeit hat zumeist eine stärkere Symbolkraft als die Symbole selbst. Nicht nur, daß jeder öffentliche Platz den Graffititest bestehen muß, daß bei jeder Angelegenheit Betroffene mitreden wollen; nicht nur, daß man in einer Hauptstadt nie unter sich ist und daß die Bonner nun tatsächlich kommen: Berlin muß sich spreizen und aufblasen, damit es so groß ist, wie es immer tut.

Das ist anstrengend und geht über das natürliche Vermögen der Politiker wie der Medien hinaus, so daß man sich gewisser Zusatzstoffe, wirksamer Mittel, bedient. So betonte der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen, bemüht, dem Mauerdenkmal gegenüber so skeptisch zu sein wie die Bürger, zugleich, daß er „allen Forderungen nach einem Schlußstrich unter die Vergangenheitsbewältigung eine deutliche Absage“ erteile.

Zwar brauchen wir Berliner glücklicherweise kein Mauerdenkmal, um unsere Vergangenheit zu bewältigen – was uns frei von den Ab- oder auch Zusagen Eberhard Diepgens macht. Unglücklicherweise wissen wir das aber nicht. „Unter dem Applaus der Zuschauer“, berichtete vor wenigen Tagen eine Zeitung, fügte Bundesumweltministerin Angela Merkel dem Regierenden hinzu: „Der Vergangenheit darf nicht mit Vergessen begegnet werden.“ – „Die Gedenkstätte“, brachte Diepgen das Gesagte schließlich auf den Punkt, „muß ein mentaler Stolperstein sein.“

Nur in Berlin ist es möglich, solch lebensfernes Kauderwelsch ungestraft unter die Leute zu bringen. In jeder anderen Stadt würden sich die Bürger angesprochen fühlen und sich wehren. Wir aber haben uns daran gewöhnt, daß Berlin nicht dasselbe ist wie unsere Stadt. Einst symbolisierte es die Teilung von Deutschland, sozusagen in Kleinform. Jetzt stellt es die Wiedervereinigung dar, nur im Großformat. Einst hatten wir in unserer Stadt die Mauer, heute haben wir den Potsdamer Platz. Na und.

Das Berlin von damals war der Status quo, unsere Stadt jedoch war es nicht: Sie schrieb ihre Geschichten und schreibt sie bis heute fort. Berlin aber ist der Geschichte immer einen Schritt voraus. Es will Hauptstadt sein, Regierungssitz, Olympiastadt, Weltmetropole natürlich, es will ein Prozeß sein, ein Versuch, eine Werkstatt. Eine neue Generation von Intellektuellen soll geboren werden, und die Juden sollen zurückkommen. Berlins Bedeutung allerdings, sagte der Generalsekretär des Jüdischen Weltkongresses, Israel Singer, kürzlich, „wird davon beeinflußt werden, in welchem Maß von Normalität man mit den Juden der Stadt umgeht“. Normalität. Im Wettlauf mit der Geschichte, unter all den Symbolen, kann man nicht normal denken. Also wirft Berlin sich Steine in den Weg. Achtung, stolpern!

Dabei liegen genug Stolpersteine herum. Im Briefkasten des Berliner Tagesspiegel zum Beispiel, dessen Leser sich darüber erregen, daß die Zeitung ihnen in einer Serie ein paar Türkischkenntnisse vermitteln will, die sie für ein Gespräch mit ihren Nachbarn gebrauchen können. Auf jeder Buslinie liegen Stolpersteine, auf den Bahnhöfen, in den Ostberliner Mietshäusern. Bevor die Bundeswehr am Roten Rathaus ihr Gelöbnis spricht, werden die Stolpersteine weggeräumt, wenn sich ein PDS-Abgeordneter zum Rednerpult begibt, fliegen sie durch das Berliner Parlament.

In der Ackerstraße liegt kaum noch Hundescheiße. Die Gassimeilen haben sich verändert. Frauchen und Herrchen gehen über den Hof der Gedenkstätte und blicken durch den Schlitz der Hinterlandmauer auf den Grenzstreifen. Die Hunde tun derweilen das Ihre.

Es gibt auch keine Parkplätze mehr. Die Autos der Gedenkstättenbesucher verstopfen die Straße. Warum kommen sie nicht mit dem Bus oder der Bahn? Zu teuer?

Man kann nicht durch unsere Stadt laufen, ohne anzustoßen, und komischerweise stürzt man immer wieder über die verschwundene Mauer. Die Frage ist nur, ob das Stolpern ein mentales ist.