Schon der kleinste Knall löst Panik aus

Kinder und Jugendliche leiden am meisten unter den Spätfolgen der Anschläge und Massaker in Algerien. Eine Kinderpsychiatrie versucht das Leid der traumatisierten Patienten zu lindern. Doch die Mittel sind sehr knapp  ■ Aus Blida Reiner Wandler

Seit drei Monaten drückt Natja wieder die Schulbank. Doch wo sie früher mit links bestand, kommt sie heute kaum noch mit. „Ich kann mich nicht mehr konzentrieren“, sagt die 13jährige und spielt nervös an ihren Armreifen. Jener 9. Dezember 1997 hat ihr Leben für immer gezeichnet. Natja ging wie jeden Tag mit ihren beiden Cousinen von der Schule nach Hause. Es war genau 12.10 Uhr, als eine Explosion alles um sie herum schwarz werden ließ. Eine Cousine war sofort tot, die andere verlor ein Bein, und auch Natja wurde schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert.

Heute, über ein halbes Jahr später, sind die Narben im Gesicht verheilt. Um das rechte Bein und den rechten Arm, die beide mehrmals gebrochen waren, wieder richtig bewegen zu können, macht sie zweimal die Woche Krankengymnastik. Doch ihr Lachen hat das Mädchen ebensowenig zurückgewonnen wie den ruhigen Schlaf. Jede Nacht schreckt Natja mehrmals aus Alpträumen hoch, der kleinste Knall löst in ihr Panik aus. „Nichts ist so, wie es einmal war“, sagt sie resigniert.

Natja lebt in Blida. Dunkel erhebt sich gleich am Stadtrand das Atlasgebrige. Früher luden die Berge im Sommer zum Picknick und im Winter zum Skifahren. Heute läßt ihr Anblick bei den Bewohnern der Garnisonsstadt, 45 Kilometer südwestlich von Algier, nur noch Angst aufkommen. Die bewaldeten Hänge dienen bewaffneten islamistischen Kommandos als Unterschlupf. Von hier gelangen sie in die Mitidscha, eine fruchtbare Ebene zwischen Blida und Mittelmeerküste, die von der Presse nur noch Dreieck des Todes genannt wird. Über 1.000 Tote und 2.000 zum Teil schwer Verletzte zählt die Ortsgruppe der Vereinigung der Angehörigen von Opfern des Terrorismus (ANFVT) in Blida und Vororten. Über 16.000 Kinder sind in der Provinz entweder selbst Opfer von Gewalttaten geworden oder haben einen Elternteil verloren.

„Die beiden mußten mit ansehen, wie ihr Vater und ihre älteste Schwester enthauptet wurden“, sagt Nacera Louzri (39) und schaut dabei auf ihre Töchter, die fünfjährige Afat und die achtjährige Shor. Ihr Mann hatte ein kleines Lebensmittelgeschäft in Somaa, einem Dorf in den Bergen. Er sollte an die Islamisten einen Tribut abführen. „Als er sich wiederholt weigerte, kamen sie am hellichten Tag und töteten ihn und meine Tochter“, erzählt Nacera. Das war 1994, seither lebt Nacera mit ihren sechs Kindern von umgerechnet 250 Mark Sozialhilfe. Die beiden Mädchen haben die Gewalttat bis heute nicht überwunden. „Die kleine Afat redet ununterbrochen von ihrem Vater, den sie kaum kannte, während Shor ihn nie wieder erwähnt hat“, beschreibt Nacera den Zustand der beiden.

„Wir haben uns zwangsläufig auf solche Kinder spezialisiert“, beschreibt Professorin Houria Salhi die Arbeit auf der Psychiatrischen Abteilung für Kinder im Krankenhaus Frantz Fanon in Blida. Seit 1993 werden hier Kriegskinder behandelt. Mühsam mußte sich Professorin Salhi damals das entsprechende Wissen aneignen. „Als wir anfingen, waren wir eine ganz normale Kinderpsychiatrie“, sagt sie. Heute gehört die Abteilung zu einem internationalen Forschungsprogramm, an dem auch Kliniken aus Ruanda, Bosnien-Herzegowina, Nicaragua und Vietnam beteiligt sind.

Die Symptome der Patienten im Alter von 4 bis 13 Jahren sind immer die gleichen: Die Kinder essen nicht mehr, leiden unter Schlaflosigkeit oder sind apathisch und traurig – die üblichen Merkmale einer tiefen Depression. Viele Kinder haben Gedächtnislücken. „Oft bringen die Eltern den Zustand gar nicht unmittelbar mit dem Gewalterlebnis in Zusammenhang, da dieses schon Monate zurückliegt“, sagt Professorin Salhi. In langen Gesprächen lassen sie und ihre Mitarbeiter die Kinder erzählen. „Medikamente gibt es nur für Patienten, die direkt nach einem Attentat unter schwerem Schock eingeliefert werden.“ Es gelte vor allem, die Familien in die Arbeit miteinzubinden. Da das Frantz Fanon das einzige Krankenhaus im Lande ist, das Kriegskinder behandeln kann, soll im Herbst ein spezielles Fortbildungsprogramm für normale Kinderärzte anlaufen.

„Mittlerweile arbeiten wir sehr gut mit den örtlichen Sozialstationen zusammen“, sagt Professorin Salhi. Die vermitteln nicht nur die Kinder an die Klinik, sondern organisieren jeden Sommer Ferienkolonien, um den Kindern Distanz zu ihrem üblichen Umfeld, das zugleich auch der Ort der Gewalttat ist, zu ermöglichen. Selbst aus dem Ausland, meist aus Frankreich und der Schweiz, kommen Angebote, Kinder aufzunehmen. Doch die Regierung will die Kleinen nicht ziehen lassen. „Sie würden dort manipuliert, wurde uns als Grund genannt“, sagt Professorin Salhi. „Eine Diskriminierung. Wer kein Opfer der Gewalt ist, darf ins Ausland, wer Opfer ist, nicht.“

Professor Scherif Nuar von der Krankengymnastik kann die Maßnahme ebenfalls nicht verstehen. „Für viele Kinder ist ein Auslandsaufenthalt der schnelle Weg zur dringend benötigten Prothese“, gibt er zu bedenken. 3.000 Mark kostet eine Unterschenkelprothese die algerische Krankenkasse. Die Mittel sind gering, die Kinder müssen monatelang warten.

Nuar will jetzt Gehhilfen einführen, wie sie in Sarajevo erprobt wurden. Sie bestehen nur aus einer Aufnahme für den Beinstumpf, einem Stück Rohr und einem Fuß mit Schuh. „Zwar nicht ästhetisch, aber nur ein Zehntel so teuer“, sagt der Professor. Bis es soweit ist, hoffen viele Eltern weiter auf eine Auslandsreise für ihre Kinder. „Die Kleinen müssen spielen können, dann vergessen sie. Dazu brauchen sie die Prothese so schnell wie möglich“, sagt Professor Nuar.

Bei den Großen ist das schwieriger. Vor allem um die jungen Frauen mit einer Amputation sorgt sich der Arzt: „In einer so traditionellen Gesellschaft wie der algerischen werden sie nur schwer einen Lebenspartner finden. Das ist ein soziales Drama.“