Grüße aus Budapest
: Der fiktive Weltrekord

■ Mit richtiger Disziplin und Europarekord wird Christine Arron zur EM-Heldin

Es gab einen mächtigen Andrang, als Christine Arron gestern in einem Budapester Hotel zur Pressekonferenz bat. Logisch – egal, was noch kommt, sie wird die Protagonistin und Vorzeigeathletin dieser EM bleiben. Das liegt auch daran, daß sie ihre Haare gefärbt hat. Aber das tut schließlich auch ein gar nicht unbeträchtlicher Anteil jener Menschen, die man in der ungarischen Hauptstadt so sieht. Das Spannende an Arron ist auch nicht, daß sie seit Mittwoch Europameisterin ist, sondern ihre Disziplin und ihre Geschwindigkeit. Mit 10,73 Sekunden über 100m hat sie Irina Priwalowa (10,83) nicht nur den Titel abgenommen, sondern auch den Europarekord (vormals 10,77). Auch die Dritte, Thanou (10,87), und die Ukrainerin Pintusewitsch (10,92) als Vierte blieben im Finale unter elf Sekunden. Das heißt: Europas Sprinterinnen haben wieder Weltniveau.

Vor Budapest waren 19 der 20 schnellsten Zeiten von Nicht- Europäerinnen gelaufen worden, die meisten von Marion Jones (USA);, nur Arron lag mit 10,85 sec dazwischen. Die EM, sagt Priwalowa, zeige, daß „auch Europäerinnen schnell laufen können“. Sie betrachtet nach langwieriger Verletzung Silber „wie einen Sieg“ und, obwohl 30, nicht als Abschluß, sondern als Neuanfang und Kampfansage an Marion Jones. Priwalowa ist und bleibt aber eine zurückhaltende Dame und hat das Bedürfnis der Branche nie erfüllen können nach jemandem, der die Öffentlichkeit über die Laufbahn hinaus zu interessieren versteht.

Arron (24) gibt da mehr her, aber nicht nur, weil die Mehrzahl testhalber dazu befragter Männer sich von ihrem Äußeren angezogen fühlt. Sie lacht viel, sie redet gern, gestern gab sie den großstädtisch geprägten, fröhlich-selbstbewußten Twentysomething. Nebenbei studiert sie Marketing, 1992 kam sie als Talent aus ihrer Heimat Guadeloupe nach Paris – wie Marie José Perec, Vorzeigefrau der französischen Leichtathletik und einer der wenigen für ein europäisches Land startenden Weltstars.

Mit den 10.73 sec tun sich jetzt wunderbare Möglichkeiten auf, Leute an die Leichtathletik zu fesseln oder sie zurückzugewinnen. National: Girlie Arron duelliert sich publikumswirksam mit Lady Perec um die Gunst der Franzosen. International: Arron fordert die sportlich zwar beeindruckende, freundliche aber jenseits der Stadien doch allzu burschikos- langweilige Marion Jones.

Da Arron erst im vergangenen Jahr in die Weltspitze kam und sofort WM-Vierte wurde, findet zum Beispiel die deutsche Melanie Paschke es „erstaunlich, welche Leistungssprünge sie in ihrer Karriere gemacht hat“. Arron hat allerdings eine lange, böse Zeit voller Verletzungen hinter sich, weshalb es fünf Jahre brauchte, ehe sie ihren ästhetischen, technisch beeindruckenden Laufstil perfektionieren konnte.

Was die Griechin Ekaterini Thanou (23) betrifft, so gehört die zu jener griechischen Trainingsgruppe, die sich im vergangenen Frühsommer in Dortmund dem Zugriff des deutschen Dopingkontrolleurs Wengoborski durch eilige Flucht entzog. Daraus hat Thanou gelernt. Sie hat, wie sie sagt, ihre „Saison auf dieses eine Ziel hin konzipiert“. Das heißt, außerhalb Griechenlands bekam man sie vor der EM nicht zu sehen. Zu kontrollieren auch nicht. Der Griechin, sagt Paschke (28), die mit 11,07 Sekunden Fünfte wurde, „habe ich alles zugetraut – von 12,0 bis 10,48“. Aha. Der leidige Weltrekord von Florence Griffith-Joyner steht bei 10,49. Marion Jones will ihn überbieten, aber Arron hat über ihn gesagt: „Er existiert nicht. Er ist fiktiv.“ Keine Frau sei in der Lage, „so schnell zu rennen“. Langsam muß sie sich bremsen, sie ist inzwischen selbst nur noch 24 Hundertstel entfernt. pu