Protestkultur light

■ Wie Kulturpolitik unverhofft in den Wahlkampf geriet: Intellektuelle trafen sich zum „10. Ideentreff EuroVisionen“ im Berliner Willy- Brandt-Haus und wollten nur das eine – Gerhard Schröder muß Kanzler werden. Mutter des Gedankens: die Wählerinitiative der 60er Jahre.

Der bevorstehende politische Wechsel ist in seine auratische Phase getreten. Gleich in Scharen waren Fernsehteams und Zeitungsredaktionen angerückt, um dem von der „Aktion für mehr Demokratie“ initiierten 10. Ideentreff beizuwohnen. Über die neun vorangegangenen Termine seit 1993, so Organisator Klaus Staeck, sei nie ein Beitrag erschienen, und nun dies: Mehr als 1.000 Besucher drängelten sich im Atrium des Berliner Willy-Brandt-Hauses um die letzten Plätze: Wahlkampf ist, und alle gehen hin. Dabei ist schwer zu sagen, was eigentlich gegeben wurde. Kurze politische Statements reihten sich an Grußadressen, und irgendwann wurde die Rednerliste abgebrochen.

Der frühere französische Kulturminister Jack Lang und der Verleger Michael Naumann, der Musiker Jean-Michel Jarre und der Schriftsteller Antonio Tabucchi, der Philosoph Bernard Henry Levy und der Historiker Wolfgang Mommsen, sie alle hatten sich zu „EuroVisionen“ bekannt, und man war nicht nur wegen des Titels geneigt, an Fernsehen zu denken.

Oskar Negt, kulturpolitischer Schröder-Berater, hatte den Takt vorgegeben. Man sei zusammengekommen, um die kulturelle Hegemonie der Konservativen zu brechen. Die Ära Kohl gehe unwiderruflich zu Ende. Da klang mehr als sozialdemokratische Hoffnung an: Überzeugung, fast schon Gewißheit. In Negts Stimme blitzte die Emphase früherer Audimax- Reden auf. Es sei an der Zeit, daß die Intellektuellen die „gestohlenen Mäntel machtgestützter Innerlichkeit“ ablegten. Das waren sie doch, die poetisch-politischen Merksätze, die ein Theoriekonvolut wie „Geschichte und Eigensinn“ (Negt/Kluge) trotz seiner Sperrigkeit zu einem Kultbuch der 80er Jahre gemacht hatten. Aber wenn an dieser Stelle Unruhe im Saal entstand, dann nicht der feurigen Worte wegen. Der Schrödertroß hielt Einzug und huschte artig auf die Zuhörerbank.

Daß Kulturpolitik zu einem zentralen Wahlkampfthema werden konnte, hat selbst die Veranstalter des „Ideentreffs“ überrascht, auch wenn viele der Mitstreiter schon 1972 für Willy Brandt auf die Bühne gestiegen waren. Vereinnahmungsängste blieben außen vor. Nicht die Kultur werde hier von der Macht instrumentalisiert, sondern umgekehrt versuche sich die Kultur der Politik zu bemächtigen. Der Kanzler Schröder, so die fast liebevolle Drohung, solle sich schon mal darauf gefaßt machen, daß man ihm im Nacken sitzen werde. Dissens kam unter den Rednern nicht auf, der Zeitplan drängte, und die Höflichkeit gebot Geduld. Die Ideen beugten sich dem Protokoll.

Dabei wäre genügend Streitstoff zur Hand gewesen. Erst am Morgen hatten Gerhard Schröder und sein designierter Wirtschaftsminister Jost Stollmann über ihr künftiges Wirtschaftsprogramm parliert, daß es die vielen geschulten Kapitalismuskritiker hätte schütteln müssen. Statt dessen wurde im einträchtigen Beisammensein dem Segen der Ökonomie vom Vormittag das Bild vom Terror der Ökonomie (Viviane Forrester) wie ein Abwehrschild entgegengehalten, und alle waren's zufrieden. Kein böses Wort darüber, daß es eben Schröder sein könnte, der sozialdemokratische Grundsätze ohne kulturbeflissene Rücksichtnahme an Weltmarktanforderungen anpaßt. Durch die SPD gehen derzeit sehr viele Widersprüche hindurch. Den Rest bestreitet die Sorge der konservativen Gegner. Die Marktgesetze dürften nicht die Oberhand über die Kultur gewinnen, zitierte Freimut Duve gleich mehrfach die FAZ, das zerstöre die Kunst. Geht doch, Protestkultur light.

Daß schließlich doch noch so etwas wie Nachdenklichkeit die Runde durchwehte, lag an Filmemacher Volker Schlöndorff. Die Generation der Podiumsdiskutierer sei halt auch älter geworden und die Jungen seien leider nicht da. Tatsächlich war keiner der Vortragenden unter 40. Das politische Schweigen jüngerer Generationen, legte Schlöndorff nahe, habe eben auch etwas mit der Generation der 68er zu tun. Mit Schröder, das war kaum zu überhören, verbinden sich noch einmal die längst abgeschriebene Machtchancen einer Generation, die allmählich ins Rentenalter vorrückt. Der Überdruß der Intellektuellen an der Ära Kohl offenbart auch ein gehöriges Maß an narzißtischer Kränkung. All die langen Kohl- Jahre über hatte die Politik nichts von der Kultur wissen wollen.

Bringt die neuerliche Nähe zur Macht auch einen kulturellen Schemawechsel mit sich? Wenn man das zur Veranstaltung gehörende Kulturprogramm vom Abend im Berliner Ensemble (BE) als Indiz nimmt, dann eher nicht.

Mit einem bunten Reigen aus einer Frank-Zappa-Komposition, Klezmer-Musik, den Trommelkünsten eines Günter „Baby“ Sommer und den Ballermann-6- kompatiblen Kabarettnummern von Thomas Freitag präsentierte man ein eher stilunsicheres Mischformat zwischen forscher Moderne und SPD-Nachbarschaftsfest. Passend dazu hatte sich Gerhard Schröder, der erst am späten Abend das Wort ergriff, Bescheidenheit verordnet. Aus proletarischen Verhältnissen stammend, habe er sich den Zugang zu den Künsten hart erarbeiten müssen. Da droht weniger ein Kulturschock als zähes Weitermachen. Oder ist Schröder doch ein Chamäleon, das viele Farben anzulegen versteht? Das waren so Fragen in der Nacht vorm BE. Harry Nutt