Aber das Herz schlägt noch türkisch

Nirgendwo fühlen sich Türken ihrer neuen Heimat Deutschland näher als in Berlin. An der Spree gibt es nicht nur Kebab satt, hier kann türkischer Lifestyle geschnuppert werden. Dennoch sind die Türken in Deutschland noch nicht wirklich angekommen. Der deutsch-türkischen Wahlverwandtschaft mangelt es nach wie vor an interkultureller Kompetenz. Ein programmatischer Ausblick zur Migration  ■ Vom Schriftsteller Zafer Senocak

Wo sind die Türken in Deutschland heute zu Hause? Auf diese Frage gibt es keine einheitliche Antwort. Von den zwei Millionen Türken in Deutschland haben sich inzwischen etwa 200.000 einbürgern lassen. Diese Zahl wird sich in den nächsten Jahren verdoppeln, vielleicht verdreifachen.

Doch für nicht wenige ist der deutsche Ausweis lediglich ein Papier, das man nur an den Grenzen aus der Tasche zieht. „Patriotismus ist die Liebe zu den guten Speisen der Kindheit“, heißt es in einem chinesischen Spruch. Die deutsche Küche hat es nicht einfach neben der türkischen. Im Herzen bleiben die meisten Türken in Deutschland auch in der dritten Generation – Türken.

Deutschland klammert sich auch nach vierzig Jahren fortdauernder Einwanderung an die Wunschvorstellung, es sei kein Einwanderungsland, die multikulturelle Gesellschaft ein Zustand, den man durch markante Sprüche wegzaubern kann. Die Politik versäumt es, Mechanismen zu entwickeln, um den Einwanderungsprozeß so zu gestalten, daß er für die deutsche Mehrheit akzeptierbar wird.

Mit den Auswirkungen der Einwanderung bleiben die Menschen oft allein gelassen. Dieser Zustand fördert die Xenophobie, nährt irrationale Ängste und Vorurteile. Im Bereich der Kultur fehlt eine Bewußtseinsarbeit, die das Phänomen der Einwanderung als deutsche Wirklichkeit wahrnehmbar machen würde. Deutsches Theater, deutsche Filme und Literatur reflektieren in viel zu ungenügendem Maße die Veränderungen, die durch die Anwesenheit von Millionen Menschen fremder Herkunft in Deutschland eingetreten sind. Die Einwanderer sind in der deutschen Kultur noch nicht angekommen.

Deutsche und Türken in Deutschland sind einander nähergekommen, als man denkt. Alle Probleme, die heute mit dem Scheitern der multikulturellen Gesellschaft in Verbindung gebracht werden, haben mit dieser Nähe zu tun und mit der Erkenntnis, daß diese Nähe nicht unbedingt einhergeht mit dem Verschwinden des Fremden, mit seiner Assimilation.

Gerade in Berlin ist die Zahl der Einbürgerungsanträge besonders hoch. Nirgendwo fühlen sich Türken ihrer neuen Heimat Deutschland näher als in Berlin. Sie haben viele historische Stunden dieser Stadt miterlebt, mitgestaltet, mitgetragen.

Der Berliner Innensenator Jörg Schönbohm nimmt die Situation allerdings ganz anders wahr. Er spricht von Ghettos, von Stadtteilen mit mehrheitlicher ausländischer Bevölkerung, die man austrocknen müsse. In diesen „Quartieren“ habe man das Gefühl, sich nicht mehr in Deutschland aufzuhalten. Er sei für die Vielfalt der Kulturen, behauptet der Senator.

Eine multikulturelle Gesellschaft aber bedeute für ihn eine Form des Zusammenlebens, bei der sich die Kulturen auflösten. So ähnlich argumentieren auch türkische Fundamentalisten, die die Reinheit ihrer Kultur in Deutschland bedroht sehen.

Das Überleben von Gemeinschaften in Zukunft wird von ihrer interkulturellen Kompetenz abhängen. Diese basiert auf einer emotionalen und intellektuellen Fähigkeit, im eigenen Haus Räume für den Anderen zu schaffen, Ängste, die mit einer solchen Umräumung zusammenhängen, zu kontrollieren und zu bannen. An dieser Kompetenz mangelt es in Deutschland.

Dabei müßte die vorrangige Aufgabe der geistigen und politischen Eliten in Deutschland lauten, Gedanken und Modelle zu entwickeln, die die interkulturelle Kompetenz in der deutschen Gesellschaft stärken.

Zunächst einmal müßte eine weitverbreitete Befürchtung ausgeräumt werden: Der Aufbau einer interkulturellen Kompetenz führt nicht zum Zerfall von Gemeinschaften. Andere Kulturen als gleichwertig zu akzeptieren heißt nicht, die eigene aufzugeben.

Nur wer des Eigenen mächtig ist, kann mit dem Anderen verhandeln. Es ist längst an der Zeit, daß die Deutschen wieder mehr Zutrauen zum Eigenen fassen. Ein solches Zutrauen drückt sich nicht im Diffamieren des Anderen aus, sondern in der vorgelebten Attraktivität eigener Anschaungen und Werte.

Im folgenden soll ein Modell in fünf Schritten vorgestellt werden, eine Art Stoffsammlung zur Migration, aus dem ein Programm für ein modernes, offenes Deutschland gestaltet werden kann.

Erstens: Erkennen der Lage

In Deutschland wird die Einwanderungsfrage seit Jahrzehnten ohne Behandlung verschleppt. Mittlerweile hat sie den Charakter einer chronischen Entzündung angenommen, an der jeder laboriert, der irgendein Leiden verspürt. Mit inzwischen 7,5 Millionen Bürgern ausländischer Herkunft sind Tatsachen im Land entstanden, die Ausgangspunkt jeglicher Überlegung für die Zukunft sein müssen.

Der deutsche Nationalstaat wird ein Staat mit Bürgern unterschiedlicher Herkunft sein. Ein ethnisch und kulturell homogenes Deutschland existiert nicht. Das deutsche Volk muß zusammen mit anderen Völkern eine moderne Nation bilden, deren Identität sich nicht in archaischen Abstammungsritualen erschöpft.

Zweitens: Konsens schaffen

Keine andere Frage teilt die deutsche Gesellschaft so stark in zwei Lager, wie die Frage der Einwanderung. Diese Spaltung in der Gesellschaft muß überwunden werden. Ohne einen Konsens in der Gesellschaft über den multiethnischen Charakter Deutschlands ist kein einziges Problem zu lösen, das durch die Einwanderung der letzten Jahrzehnte entstanden ist.

Drittens: Regulieren schafft Vertrauen

Vertrauen wird in Deutschland fast nur auf dem Gesetzesweg geschaffen. Deswegen ist ein Einwanderungsgesetz unvermeidlich. Nur so kann man Ängsten in der Bevölkerung entgegenwirken, alle Schleusen seien offen und eine Invasion Deutschlands von außen stünde bevor.

Viertens: Sexappeal stärken

Deutschland muß wieder attraktiver werden. Dieses Land hat eine Menge zu bieten, was Menschen unterschiedlicher Herkunft anzieht und längerfristig an sich bindet. Die Unternehmen haben hierbei eine Vorbildfunktion. Die deutsche Wirtschaft hat in den letzten Jahrzehnten Millionen von Menschen unterschiedlichster Herkunft in den Arbeitsprozeß integriert. Eine großartige Leistung, über die heute keiner spricht, von der aber alle Beteiligten profitiert haben.

Fünftens: Vom Abstammungsstaat zur Bürgergesellschaft

Integration von Fremden kann nur gelingen, wenn man der mythischen Kraft des Gemeinschaftsgefühls, die ausschließlich über Herkunft geschaffen wird, institutionelle Komponenten entgegenstellt. Institutionen können Identifikationsmöglichkeiten anbieten. Sie sprechen anders als die Mythen das Rationale im Menschen an. Ohne starke Institutionen gibt es keine Bürgergesellschaft. Und nur eine Bürgergesellschaft kann Menschen unterschiedlicher Herkunft auf Dauer in einem Staatswesen zusammenbringen. Die Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft darf nicht länger ausschließlich ethnisch bestimmt werden. Der Abstammungsstaat hat keine Zukunft. Er basiert auf Mythen. Und mit denen allein kann keine interkulturelle Kompetenz erlangt werden.

Diese Schritte stellen freilich auch die Einwanderer vor Herausforderungen. Unter ihnen hat man sich bislang auf Forderungen konzentriert, die vor allem die Staatsbürgerschaftsfrage und in untergeordnetem Maße die Kultur- und Bildungspolitik betrafen. Diese Forderungen müßten stärker begleitet werden von konzeptionellen Überlegungen, von durchdachten und vorgelebten Integrationsabsichten. Die Abnabelung der Deutschlandtürken von der Türkei steht noch bevor.

Dabei wirkt der türkische Patriotismus zunehmend als Integrationshindernis. Die Türken in Deutschland wären gut beraten, statt eines diffusen türkischen oder kurdischen Patriotismus auf deutschem Boden einen Kosmopolitismus mit universellem Anspruch zu entwickeln, der sie zu einer Avantgarde der Bürgergesellschaft in Deutschland machen würde. Dafür sind die Voraussetzungen durchaus gegeben.

Gerade die in Deutschland geborene und aufwachsende Generation der Deutschlandtürken wohnt vor allem in den Metropolen Deutschlands. Städte wie Frankfurt, Köln, Hamburg und Berlin sind kulturelle Zentren, die ihren Einwohnern jegliche Möglichkeit bieten, an der Weltkultur teilzuhaben und ein kosmopolitisches Lebensgefühl zu entwickeln.

Die kosmopolitische, städtische Elite verfügt wie selbstverständlich über interkulturelle Kompetenz. Sie ist gut ausgebildet und auch im Wirtschaftsleben erfolgreich. In Deutschland existiert eine solche deutsch-türkische Elite. Sie wird jedoch weitgehend ausgeblendet, wenn die Sprache auf die Türken in Deutschland kommt. Repräsentiert werden dann vor allem die Verlierer, die sogenannten Kanaken.

Die deutsch-türkische Elite müßte sich deutlicher artikulieren, sich Deutschland und deutschen Themen zuwenden und auch eigene Organisationen bilden, die sich nicht im Fahrwasser des türkischen Patriotismus bewegen.

Fragen der nationalen Identität sind in Deutschland komplexbeladen und können nicht gelassen diskutiert werden. Es gibt historisch gewachsene Ängste, Schuldgefühle und verdrängte Aggressionen, die wir nicht ausklammern dürfen, wenn wir die Probleme in unserer Gegenwart meistern wollen. In Deutschland wird der Begriff der Vergangenheit von der Erfahrung des Holocaust überschattet.

Es ist bemerkenswert, daß die deutsche Geschichte in den Debatten um Multikulturalität heute weitgehend ausgeblendet wird, sowohl von den Deutschen als auch von den Einwanderern. Die deutsch-türkische Affäre von heute kann und sollte keine Fortschreibung der deutsch-jüdischen Geschichte von gestern sein. Dennoch müssen wir unsere Visionen mit einem Rückblick konfrontieren.

Die deutsch-türkische Begegnung, aber auch andere Begegnungen zwischen Völkern, die eine Folge von Migrationen sind, also eine Verschränkung, ein dichtes Nebeneinader und Miteinander zur Folge haben, können ohne eine Klärung historischer Hintergründe nicht weitergedacht werden. Der Nationalismus stützt sich auf eine Verklärung der eigenen Geschichte.

Wenn der Griff des Nationalismus auf die Völker im 21. Jahrhundert gelockert werden soll, müßte die Verklärung der eigenen Geschichte durch Erklärung ersetzt werden. In der Hoffnung, daß im Erklären jenes Klären versteckt ist, das die deutsche Sprache in dieses Wort hineingeschmuggelt hat.

Überarbeitete Fassung eines Vortrages für das Transatlantikforum 1998