Schwund eines Stadtmöbels

Sie ist ein Ort zumeist flüchtiger Worte – die Telefonzelle. Nun wird sie zunehmend vom Handy verdrängt. Lange Zeit kreischgelb, heute altdamenrosa, taugt das Möbel kaum zur Projektionsfläche nostalgischer Gefühle. Aber ein Leben ohne Quasselbude am Straßenrand? Ein Abgesang  ■ Von Uwe Ruprecht

Ein Handy kommt nicht in Frage. Manchmal habe ich nicht einmal einen Telefonanschluß. Zumal dann, wenn die Gebührenrechnung mein Budget übersteigt. Kein Telefon zu haben, damit kann ich leben. Nicht erreichbar, nicht ins Telekommunikationsnetz geknüpft zu sein ist ein dem Fasten ähnlicher Zustand, der die Kontaktstellen zur Außenwelt reinigt und den Blick, besser: das Gefühl öffnet für das Wesentliche. Die Möglichkeit, daß jeder mich jederzeit anklingeln könnte, nährt hingegen bloß meine Paranoia.

Es ist daher keine pauschal fortschrittsfeindliche, kulturkritische Melancholie, die mich ihr allmähliches Verschwinden beklagen läßt. Gewiß, nie ist eine in der Nähe, wenn man sie braucht, und hast du endlich eine gefunden, ist sie defekt oder von einer Quasselstrippe belegt. Gleichwohl war die Telefonzelle bis vor kurzem ein unentbehrliches Stadtmöbel – als es für Passanten und Reisende keine andere Möglichkeit gab, fernmündliche Verbindungen einzugehen.

Doch seit das Handy herrscht, wird die Zelle für die Telekommunikation alsbald so antiquiert sein wie die Litfaßsäule für die Werbung. Mehr noch: Ihr Verschwinden ist bereits besiegelt. Mit den „Hauben“ begann es. Statt in platzfressenden Zellen werden die Fernsprechapparate an irgendeiner Wand befestigt und mit einer Plexiglasschüssel überwölbt. Jetzt verschwindet auch die seit fünfzig Jahren vertraute Farbe der Zelle. War kein Bahnhof oder Marktplatz in der Nähe, genügte es, kurze Blicke in die Straßen zu werfen, die man passierte, um eine gelb leuchtende Kabine zu erspähen.

Einem mittlerweile privaten Unternehmen konnte unmöglich länger gestattet werden, derartige Marken ins Stadtbild zu setzen. Seit vier Jahren werden die gelbklobigen Dosen nach und nach abmontiert und durch ein transparentes Gestänge in Grauweiß und einem Altdamenrosé namens Magenta ersetzt; anno 2001 soll die Umrüstung beendet sein. Daß wie in anderen Ländern verschiedene private Telefongesellschaften Zellen in unterschiedlichen Designs am Straßenrand aufstellen, ist nicht zu erwarten – davor sei das Handy.

Vor 99 Jahren wurden in Berlin die ersten öffentlichen Fernsprecher installiert. Und doch handelt es sich offenkundig dabei um eine Übergangserscheinung – wie das „Fräulein vom Amt“, das ehedem die Gespräche vermittelte und mithören konnte. Oder der Münzautomat. Auch längst Geschichte, daß ich eine Handvoll Groschen brauchte, um von unterwegs telefonieren zu können. So wie der Groschen bald Geschichte und vom Cent abgelöst sein wird. Das Kartentelefon hat die Bettler aus dem Umfeld der Zellen verdrängt – hier fällt kein Kleingeld mehr an. Statt dessen wird die Hand an den Fahrscheinautomaten in den Bahnhöfen aufgehalten oder noch dichter an der Quelle, neben den Geldautomaten der Banken.

Auch einer ganzen Kultur des Vandalismus hat das Kartentelefon den Garaus gemacht. Bis dahin war die Konstruktion der Apparate ein Wettlauf mit Dieben und Zerstörern gewesen. Gewisse Tricks konnte nur die unbegrenzte Phantasie der Zerstörungswut ersinnen. Wie den, daß eine am Feuerzeug erhitzte Büroklammer, in den leuchtenden Pfeil gestochen, der bei einem Modell auf den Geldschlitz hinwies, die Geldausgabe aktivierte. Oder daß der Speicherchip durch das Zünden eines elektronischen Feuerzeugs in Apparatnähe sein „Gedächtnis“ verlieren konnte. Daß der Zellenraum mit Graffiti gesprenkelt wurde wie sein Namensvetter, die Haftzelle, ist ebenfalls vorbei. Viel Glas beim neuem Kleid der Telefonzelle vereitelt alle Versuche, individuelle Zeichen zu setzen.

Erfahrungen mit der Telefonzelle zu schildern bedeutet, einen Querschnitt durch die eigene Biographie zu legen. Wer ein geordnetes Leben führt, das über lange Zeiträume gleichförmigen Abläufen folgt, wird kaum Erfahrungen mit der Zelle machen; sie ist für ihn mit einer Ausnahmesituation verbunden: als der Führerschein weg war, als der Zug verpaßt und die Frau angerufen werden mußte.

Der Normalbürger braucht die Zelle am ehesten noch auf Reisen. Bedeutsame Unterhaltungen führt er von zu Hause, vom eigenen Anschluß. In der Fremde dagegen stellt die Zelle die Verbindung zur Heimat her. So genau wie an meine Wohnungen erinnere ich mich an die dazugehörigen Zellen. In den großen Städten mit ihrer Vielzahl von Angeboten gibt es immer ein Kriterium, das mich häufiger zu einer bestimmten Zelle zieht – bis ich sie schließlich in Besitz genommen habe. Für die Dauer des Telefonats wird die Zelle zum Heim im Unbehausten, das ich mit wütenden Worten und Gesten gegen jede Störung verteidige.

Schon eine Schande, daß die Telefonzelle verschwindet, ohne je angemessen gewürdigt worden zu sein. Unbeschrieben sind die Variationen ihres Vorkommens. Die Vielfalt ihrer Standorte. Ihr Auftreten in Paaren oder als Zellenhaufen. In den ruhigen, gutbürgerlichen Wohnvierteln scheinen sie nur der Form halber aufgestellt worden zu sein, damals, als die Telekommunikation noch unter der Schirmherrschaft des Staates stand und sämtliche Straßenzüge versorgt sein mußten. Diese Zellen scheinen ausschließlich für den Notfall gedacht.

In der Literatur, in bildender Kunst und im Film finden sich zwar unzählige Beispiele für den Blick aus einem Café auf das Stadtleben; gleichermaßen stereotyp ist die Betrachtung des Gewimmels von einer Parkbank aus. Doch der zerstreute Blick, der während eines Telefonats aus der Zelle auf den jeweiligen Standort fällt, ist nie besungen, in Öl oder auf Zelluloid festgehalten worden. Dabei sind diesen Blickpositionen ihre Dauer und Intensität gemeinsam. Kaum sonst verharrt man ähnlich lange an einem Platz in der Straße. Café, Bank und Telefonzelle arretieren ein Bild, das gewöhnlich nur im Vorübergehen wahrgenommen wird. Zumal Zellen oft an Plätzen stehen, wo niemand sich lange aufhalten würde, wo weder Café noch Bank in der Nähe sind, allenfalls eine Bushaltestelle.

Wie dem Blick haftet der Telefonzelle an sich etwas Flüchtiges an. Im Vorübergehen kehrt man ein oder nimmt die nächste am Wegesrand. Flüchtig sind die Worte, denen sie dient. Und auch die Zelle selbst ist vorübergehend, keiner ihrer Standorte endgültig. Der Federstrich eines Stadtplaners kann sie versetzen. Kein Reiseführer empfiehlt für abendliche Gespräche eine Zelle in Prag mit Blick auf den erleuchteten Hradschin. Dabei hat jede Zelle ihre Eigenart, ihren Charakter. Widerlich beispielsweise die mit Kabinen vollgestopfte Etage im Hamburger Hauptbahnhof: Das Publikum, das den Ort als Aufenthaltsraum nutzt, scheint entweder gerade aus der Haft entlassen oder auf dem Sprung hinein zu sein – die durchsichtige Wand aus Glaskäfigen ist wie der transparente Vorschein eines Knasts. Geheimnisvoll war ein Zellenpaar, bei dem ich von der linken Zelle aus, sobald eine Verbindung hergestellt war, die Gespräche in der Nachbarzelle mithören konnte. Zugegeben, zuweilen habe ich aus Lauschlust die Zeitansage angerufen.

Bemerkenswert war eine Zelle neben dem Andenkenkiosk, der nach dem Mauerfall schleunigst auf dem brachen Potsdamer Platz errichtet wurde. Seinerzeit, im ersten Jahr nach der deutschen Einheit, waren die Leitungen permanent überlastet, Telefonate ein Geduldsspiel. Unzählige Male habe ich dort gestanden, unendlich lange, um eine Verbindung herzustellen. Erst kam ich nicht durch, dann war besetzt; immer wieder habe ich die Ziffern auf der spiegelblanken Tastatur eingetippt, weil ich Wiederwahltasten nicht traue. Bald bildete ich mir ein, der Rhythmus, mit dem ich die Zahlen eingab, schmeichle oder verärgere die Elektronik im Bauch des Automaten. Beide, Zelle und Kiosk, sind schon Geschichte, versunken in einem Baggerloch.

Obwohl den Worten gewidmet, der Inbegriff einer Quasselbude, war die Telefonzelle den Dichtern piepegal. Allein Alfred Polgar hat ihr in einer Miniatur ein Denkmal gesetzt. „Aber ist denn das Wesentliche einer Telefonzelle das Telefon?“ fragte er. „Nein, das Wesentliche sind die vier Wände. Die Enge. Die Ruhe im Lärm. Die immerhin markierte Abgegrenztheit gegen Dunkel und Kälte. Die Stübchenillusion.“ Temps perdu: Der Handyist pfeift aufs Stübchen. Bereits die Telefonhauben sind bloß noch ein Rudiment der Sicherheit und Abgeschiedenheit der Zelle, die beim Handy ganz wegfallen.

Schon vor zehn Jahren stellte die Bundespost fest, daß „vor allem ältere Personen“ die Häuschen der Haube vorzögen. Mit den „älteren Personen“ sterben die Verhaltensweisen, die die Zelle vom Handy unterscheiden. Die Heimlichkeit des Telefonats verliert an Bedeutung. Die dünne Grenze zwischen Intimität und Öffentlichkeit, die die Kabinenwand markiert, verschwindet. Das Handy ist mehr als nur ein technischer Ersatz. Es markiert eine andere Telefonkultur. Das Handy steht nicht nur für ständige kommunikative Vernetzung, es zeigt sie vor. Es signalisiert „allzeit bereit“, vielleicht wird es deshalb besonders von Männern geschätzt. Der „Lauschangriff“, die Möglichkeit, vom Staat in seiner Wohnung abgehört zu werden, erregt allenfalls den Exhibitionismus des Handyisten. Wer auf einem belebten Platz, aller Augen und Ohren ausgesetzt, das Ding zückt, um mit seinem Schatz über die letzte Nacht zu parlieren, gibt keine lächerliche Figur mehr ab.

Ein Reservat wird die Telefonzelle behalten an Orten mit hoher Passantenfrequenz oder in den „sozial schwachen“ Siedlungen. Der öffentliche Fernsprecher wird eine Einrichtung werden für jene, die sich kein Mobiltelefon leisten können – oder deren Akku leer ist.

Rolf Behme, Klaus Klemp, Barbara Kohnen, Uwe Ruprecht: Telefonzelle. Flüchtiger Ort der Worte. Archive des Alltags, Heft 8, Schack Verlag, Dortmund 1998; 32 Seiten, 12 Mark