Verzweiflung und selbstgeschnitztes Glück

Irmtraud Morgners „Heroisches Testament“, 1990 nachgelassen, wurde zu ihrem 65. Geburtstag aus Fragmenten rekonstruiert. Darf man das? Darf man vollenden, woran die Autorin zu Lebzeiten scheitern mußte, und Zeuge ihrer intimsten Ängste werden?  ■ Von Frauke Meyer-Gosau

Ach, Mensch, Morgner – was für Sachen, was für Geschichten! Ungefähr zehnmal, gar nicht viel jedenfalls, Literarisches veröffentlicht zu Lebzeiten in der DDR und zweimal nun nach dem Tod. Von den Preisen nur die geteilten oder eher kleinen, skurrilen, bei halbtotem Leibe noch eine Ehrengabe für grotesken Humor, das war nicht wirklich mehr zum Lachen. Früh schon, 1964, ein ganzes schönes dickes Buch: verboten, „Rumba auf einen Herbst“, das erste jenseits von Gehorsam und treuem Glauben. Zehn Jahre später wurde es, in Stücken, Kassibern, eingeschmuggelt in ein viel dickeres, bald hochberühmtes: „Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz“. Dessen erster Satz hieß „Natürlich ist das Land ein Ort des Wunderbaren“, aber da hatte sich was.

Schon das nächste Buch lag gleich wieder drei Jahre auf Eis. Und als „Amanda“ 1983 endlich draußen war: großer Anlauf zum Finale der großen Frauen-Erfolgs- Trilogie, fürs erste „Amanda II“ genannt. Alles sollte nun doch gut werden! Sieg der Hexen! Neue Frauen, neue Männer! Nie wieder Spaltung! Nirgends! Ach, Mensch, Morgner. Ein Jahr darauf über acht Kilo beschriftetes Papier, in fünfzehn Mappen abgefüllt, verschnürt, Zettel drauf: „Dies Buch gehört dem Harlekin“, und ab damit. Weggesperrt und nicht wieder angeguckt, solange das zähe kurze Leben noch dauerte. Nicht mal in der Phantasie, nicht einmal in dieser Phantasie wollte die Umkehrung der Erfahrung glücken. Notiz 1984: „Einzig Verzweiflung möglich.“

Und dann doch wieder angefangen! Noch mal anders, noch mal die ganze Sache gedreht, hin und her, und darin auch ein eiskalt geheuchelter Dank an die berüchtigte Kommunale Wohnungsverwaltung. „Wennse keen Mann ham, müssense sich embd een ausn Rippen schneidn“, sagt da die Sachbearbeiterin zur alleinstehenden Zwei-Raum-Wohnung-Suchenden Herta Kowalczik, genannt Hero, Zirkusartistin. Die geht in Tübingen hin und tut desgleichen: schneidet sich den Mann Leander aus der Rippe. Freilich, der ist ihr Testament – „der Mann, den es nicht gibt“ – und zudem die Folge eines mißglückten Selbstmordversuchs. Und am Ende, das ist klar, muß sie die Tat mit ihrem Leben büßen, so verdüstert ist nun endgültig die Morgner-Phantasie: Mord, Selbstmord, Tod in jedem Fall. Was für Geschichten.

Das fing aber mit der Trobadora ja schon an. Die fiel aus dem Fenster im 27. Stock, bei Verrichtung einer hausfraulichen Tätigkeit, dem Fensterputzen. Ersteht in „Amanda“ wieder auf, aber wie: eine Sirene, gefangengehalten im dunklen Käfig, Zunge herausgeschnitten, mühselig mit der Vogelklaue Papier bekritzelnd, um überhaupt noch Mitteilung von sich zu machen. Wird notdürftig repariert, muß ihre Stimme, die Sprache erst wiederfinden, ein Gekrächz. Und Amanda, dem hexischen Teil der S-Bahn-Führerin Laura, geht es nicht viel besser. Ein Oberteufel Kobuk betritt Lauras Küche mit einem Richtschwert und haut die Frau glatt in zwei Teile – Amanda, abgeschlagen auf dem Hörselberg, tut gezwungenermaßen Lustdienste im Teufelspuff, Laura bleibt halbiert zurück.

Wer von den Frauen hier nicht aggressiv leiblich beschädigt wird, entwickelt die Kunst der „Schweigologie“, übt sich im Hinunterschlucken dessen, was nicht gesagt werden darf, wird „Leibrednerin“ und stellt sich nach dem ersten, dienenden Leben intensiv ein zweites vor, das dann aber gewiß ganz nur ihr gehören soll. Natürlich hat sich was damit! Ein selbstbestimmtes, auch emotional von der Kette gelassenes Frauenleben ist bei Morgner – soweit Realistin – die reine Hexerei und kann nur in Abspaltungen an geheimem Ort in okkulten Zirkeln stattfinden. Keine guten Vorzeichen insgesamt. Und dies schon lange, bevor sie nach der Schreibverzweiflung den dritten Band noch einmal völlig neu angeht. Lange bevor sie 1988 an Krebs erkrankt.

Bei ihrem Tod im Mai 1990 war Irmtraud Morgner sechsundfünfzig Jahre alt. Vom „Heroischen Testament“, wie das neue Buch nun heißen sollte, existierten nicht mehr als hundert Seiten im Typoskript. Zwölf- bis dreizehntausend Blätter lagen, immer wieder hin- und hergeschoben und umgeschichtet, in Aberhunderten von Mappen. Was für Geschichten, was für Sachen: So, wie man das Gefühl nicht loswird, dies Leben sei in sich doch nicht fertig geworden, so auch das Buch nicht, das einen Zyklus abschließen sollte – alles wie mürbe schließlich in sich abgebrochen.

Und da fragt es sich, ob man einer Toten wirklich eine gute Tat tut, wenn man das Verstreute hervorholt und zwischen Buchdeckeln zusammenfügt, wofür noch nicht einmal die Konzeption hat fertig werden können. Was das vom Nachlaßverwalter Rolf Bussmann jetzt herausgegebene Fragment des „Heroischen Testaments“ der Form nach nämlich vor allem zeigt, sind Experimente. Proben, Anläufe, aus ganz verschiedenen Zeiten und in wechselnde Richtungen. Wer, zum Beispiel, sollte im fertigen Roman der Organisator des skandalösen Hero-Materials sein, Lieferant und Kommentator der undurchsichtigen Selbstbeschneidungs-Ereignisse und ihrer Folgen? Jacky Zettel, ein ehemaliger „Schauklauer“ mittlerer Qualität und Karriere, der, in seinem Beruf arbeitsunfähig geworden, nun bei drei verschiedenen Damen Pflege- und Kochdienste tut und der einen mit Trickdiebraffinesse die apokryphen Unterlagen der anderen zuspielt?

Das scheint Morgners vorerst letzte Entscheidung gewesen zu sein, denn Zettel erscheint in der einzig vorliegenden getippten Fassung. Vorher einmal hieß er noch Jean-Marie und war ein Mann mit philosophischen Qualitäten, mit dem die erblindete Laura womöglich auch eine Beziehung hätte beginnen können. Und außer ihm waren zwischendurch noch mindestens acht andere Personen für die Position erwogen worden, aber alle verworfen.

Das wissen wir nun also oder ahnen es zumindest. Denn festgestanden hat tatsächlich nicht viel, auch nach fünf Jahren Morgnerscher Fabulierarbeit nicht. Sicher wohl nur: Das Ende hätte sein sollen, was in der Neuen Zürcher Zeitung im April 1988 schon gedruckt und fast vier Jahre zuvor aufgeschrieben worden war: der Text, über den Morgner das Vertrauen in ihre Fähigkeit zu schreiben zurückgewonnen hatte, eine kurze Erzählung unter dem Titel „Der Schöne und das Tier“. Und wie ihr Schreiben an die Fähigkeit zu lieben, das Gefühl, geliebt zu werden, gebunden war, hier kann man es noch einmal momenthaft verdichtet sehen. Denn es ist die Minnesängerin Beatriz, dann unglücklicher Sagenvogel, die sich verliebt, darüber ihr Federkleid abwerfen und endlich Frau, endlich Mensch werden kann – dies die Morgnersche Rangfolge. Doch welcher Weg hätte zu diesem Schlußglück führen können? Und hätte man es denn auch wirklich, nach „Trobadora“- und „Amanda“-Roman und all ihren Wirklichkeits-, Spaltungs-, und Beschneidungs-Beobachtungen, für eine Lösung, für ein Glück also womöglich wirklich halten können?

Wer jetzt das „Hero“-Konvolut aus Bruchstücken, Splittern und immer neuen Abbrüchen der verschiedensten Art ansieht, kann das kaum glauben. Sondern vielmehr fürchten, daß, was bei „Amanda II“ 1984 zum schockhaften und definitiven Abbruch geführt hatte, auch hier über kurz oder lang im Scheitern geendet hätte: dieser in sich schon ganz verzweifelte Wunsch, daß ein guter Schluß da sein muß, muß, muß! Gegen alles Wissen und eine erschreckende, erzwungene Kaltblütigkeit der Wahrnehmung. Denn, ach, wie gern würde Morgner nicht sehen! Das zeigen all die kurzen Glücks- Euphorien und vagen Hoffnungen. Und wie zwangsläufig also, daß ihr Alter ego Laura in diesem dritten Band anfangs blind wird – angeblich ein Zeichen von Gesundheit: „Erblindung infolge gesund gebliebener Sehkraft“. Aber dann so etwas wie Hollywood auf realistisch erweiterter Stufenleiter? Das hätte Laura ihrer Morgner doch nie abgenommen. Und diese sich selbst? Auf Dauer keinesfalls, die „Hero“-Fragmente zeigen es.

Dies Projekt vom (selbstmörderisch) selbstgeschnitzten Glück wird ja doch von innen her gesprengt und zu anderen Anläufen immer wieder gezwungen von nur wenigen Signalworten, die überall nach kurzer Zeit sich einschleichen und dann schnell explosiv werden. Deren alles Beherrschendes: Angst. „Denn wer keine Angst hat, dem mangelt es nur an Phantasie“, heißt es, oder: „ein Drängen war spürbar, Getriebensein, Angst“. Und schließlich, nach den Klageliedern des Jeremia: „Meine Angst frißt mir das Leben weg.“ Die das im Roman mitanhören muß, ist „entsetzt“ (und geht ins Bad und duscht). Wer es aber nun im Kontext all der (wie immer bei Morgner immer gleich ins Heitere, ja, Lustige gezogenen) Verzweiflungstaten des „Heroischen Testaments“ mitansieht, kann da auch nicht anders empfinden. „Angst“, „Spaltung“, „Trennung“, Nicht- eins-Sein – und dieser rasende „Hunger“, das alles aufzulösen: Sehnsüchte, die nach zwei Seiten gehen können, mörderisch in jedem Fall. „Wer nicht aufgibt, greift zum Messer.“ Und wer schon aufgegeben hat?

Irmtraud Morgners Frauenfiguren im „Heroischen Testament“ sind alle krank oder werden es oder sind sonstwie nicht mehr zu retten. Und die erblindete Laura, einst nicht von ungefähr eine energetisch überdauernde „Triebwagenführerin“, wird ein Jahr nach Morgner selbst vom Krebs gepackt. Und da werden dann die Texte im eins zu eins von Autorin und Figur so dicht, so autobiographisch und unverhohlen ausgeliefert, daß man eigentlich nicht mehr weiterlesen mag. Aus einem Grundmangel an Liebe, Verläßlichkeit und Vertrauen ist hier dem Innersten die Lebensfähigkeit abgeschnitten: Entbehrung nimmt Rache. Und spätestens hier denkt man dann auch, das hätte nicht sein sollen, da müßte es keine Zeugen geben. Was gehen mich Morgners Eltern an? Weshalb muß ich Zeugin ihrer unerlösten Grundangst werden und begleiten, was doch im Leben der Begleitung bedurft hätte?

Aber ist das gerecht? Und nicht mal am Schluß ein Wort von all den wunderschönen Findungen, die es auch im „Heroischen Testament“ natürlich gibt? Nichts von der Kinderliebesgeschichte zum mutterverschmusten Antisieger Siegfried? Oder von Herta Kowalcziks tollen Varieténummern mit Titeln wie „Frau ohne Kopf“, „Kaninchen in den Hut“ oder auch „Eine Schraube, wie stolz das klingt“? Doch, doch, doch! Aber letzten Endes geht es in diesem letzten Band eben doch um zu viel Trauriges: Sachen, Geschichten, Menschen. Ach, Mensch: Morgner! Die fehlt.

Irmtraud Morgner: „Das heroische Testament“. Herausgegeben von Rolf Bussmann. Luchterhand Literaturverlag, München 1998, 484 Seiten, 44 DM