■ Kein Mahnmal, kein Museum, keine Gedenkstätte, kein kollektiver Ort wird der individuellen Erinnerung an den Holocaust gerecht
: Mein Auschwitz

Ich bin am 27. Mai 1944 in das Konzentrationslager Auschwitz eingeliefert, am 6. Juni von dort in das Konzentrationslager Buchenwald überstellt, am 11. April 1945 im Arbeitskommando von Buchenwald, Langenstein-Zwieberge, von den Amerikanern befreit worden. Das steht in einem Dokument, in dem der Verhaftungsgrund mit zwei Worten angegeben ist: Politisch, Jude. Hier führe ich das aus einem einzigen Grund an: um nicht in falschen Verdacht zu geraten, wenn ich sage, daß mich heute, ein halbes Jahrhundert danach, kein christliches Kreuz in Auschwitz stört.

An der Frage, ob dieses Kreuz dort stehen darf, kristallisiert sich derzeit der Streit zwischen Polen und Juden, wer das ehemalige Todeslager für sich beanspruchen darf. Das Argument, daß mehr Juden als Polen an diesem Ort umgebracht worden sind, berührt mich genausowenig wie die Tatsache, daß Auschwitz in Polen liegt. Millionen sind in der Gaskammer und auf andere Weise hier umgebracht worden. Es hat auch eine Debatte gegeben, ob es so viele waren. Als ob es tröstlicher wäre, wenn es „nur“ Hunderttausende gewesen sind. Im Streit zwischen Juden und Polen vergißt man, daß in Auschwitz auch Zigeuner ums Leben gekommen sind. (Ich sage Zigeuner und nicht „Sinti und Roma“, weil ich auch Juden sage und nicht Aschkenasim und Sephardim. Sinti und Roma sind Zigeunerstämme, Aschkenasim und Sephardim jüdische Stämme; ich weigere mich, in den Worten Jude oder Zigeuner etwas Beleidigenderes zu sehen als in den Worten Deutscher oder Norweger, Eskimo oder Hottentotte, sonst siegt der Rassenwahn doch noch nachträglich.) Aber auch Tausende von Russen, Serben, Kroaten, Griechen und Angehörige vieler anderer Nationen, die keine so starke Lobby haben wie einige amerikanische jüdische Organisationen oder die römisch-katholische Kirche.

Es gab in den Konzentrationslagern Gruppen, die auch heute noch von vielen als so unangenehm empfunden werden, daß sich keiner an sie erinnern mag: Homosexuelle zum Beispiel oder die Zeugen Jehovas. Letztere waren in ihrem Glauben die festesten überhaupt. Sie hätten am leichtesten die Freiheit erlangen können, es genügte, wenn sie unterzeichneten, daß sie als deutsche Männer den Wehrdienst nicht mehr ablehnen würden. Mich hat niemand gefragt, ich war auch zu jung, aber ich glaube, ich hätte alles geschworen und mich von allem losgesagt, um aus dem KZ freizukommen. Die Zeugen Jehovas jedoch nicht. Von den übrigen Häftlingen im Lager wurden sie verachtet, und soviel ich weiß, gedenkt ihrer auch heute niemand. Selbstverständlich verstehe ich nicht, wenn sie ihre Kinder lieber sterben lassen, als eine Bluttransfusion anzunehmen, aber ihre Standfestigkeit muß ich, wenn ich auch so manches bei ihnen ablehne, bewundern.

Warum soll mich ein Kreuz stören? Ein Kreuz in Auschwitz? Oder viele Kreuze? Ich bin kein gläubiger Mensch und auch kein Nationalist. Mich geht ein Kreuz weder als christliches noch als polnisches Symbol etwas an. Aber wenn meine Mitmenschen dieses Zeichen verehren, beeinträchtigt mich das in meinem Verhältnis zu den Todeslagern auf keine Weise. Möge ein jeder das Andenken an Ungerechtigkeit, Leid und Massenmord pflegen, wie er es fühlt.

Ich verkenne nicht, daß der in Auschwitz ermordete, 1982 heiliggesprochene polnische Franziskanerpater Maximilian Kolbe, der heldenmütig sein Leben für das eines Mitmenschen opferte, davor auch antisemitische Schriften herausgab. In Deutschland weiß man hingegen nicht, was der serbisch- orthodoxe Erzbischof Nikolaj Velimirović schrieb: „Alle Übel Europas haben die Juden, die den Heiland gekreuzigt haben, verursacht: Demokratie, Streiks, Sozialismus, Atheismus, Revolution, Kapitalismus und Kommunismus, das alles sind Erfindungen der Juden beziehungsweise ihres Vaters, des Satans!“ Die Deutschen haben ihn trotzdem nach Dachau eingeliefert. Er war Zigeuner. Jetzt soll auch er von der orthodoxen Kirche heiliggesprochen werden. Wen die Kirchen heiligsprechen, geht mich nichts an. Nach meiner Erfahrung kann ich nicht behaupten, daß Leid die Leidenden heiligt. Ich fürchte, eher das Gegenteil ist der Fall.

Mit Interesse, aber ohne tiefe Anteilnahme verfolge ich die Diskussion über ein Denkmal und/ oder ein Museum für den Holocaust in Berlin. Ich habe in Deutschland viele Gedenkstätten gesehen, und natürlich auch Yad Vashem in Jerusalem. Nirgendwo habe ich Beruhigung, Befriedigung, Hoffnung gefunden. Nicht einmal Trauer. Nicht einmal Wut. Deshalb kann ich mich an dieser Diskussion schlecht beteiligen. Ich weiß nicht, wo meine als Juden umgebrachten Eltern verscharrt sind, und keine Art von Eisen, Stein oder Bronze kann für mich jetzt nach so vielen Jahrzehnten eine Befriedigung sein.

Nach meiner Enttäuschung in Yad Vashem wollte ich in Frieden einfach am Meer baden und suchte einen kleinen Strand bei Netanya in der Nähe von Tel Aviv auf. Anstatt Ruhe zu finden, stieß ich auf einen Wettbewerb von Schulkindern, die Drachen fliegen ließen. Die Kinder lachten und schrien, hatten Leinen in der Hand, an deren Enden hoch oben farbenprächtige kleine Fluggeräte im Wind schaukelten. Auch 14jährige Mädchen ließen ihre Drachen steigen und schienen sich dabei ein wenig zu schämen, weil sie sich schon zu erwachsen für dieses Spiel fühlten. Auch die Lehrerinnen führten Leinen und zwei schwerbewaffnete israelische Polizisten, die für alle Fälle dabei waren, auch. Das Firmament, das blaue Gewölbe über unseren Köpfen, der Himmel über Israel, war voller vielfarbiger und silbriger und goldener Drachen, die hin und her schwankten und spielten und tanzten im Wind, und meine Frau sagte mit Worten, was ich nur ahnte und nicht aussprechen konnte, weil ich dort weinen mußte: Das, das waren die Seelen der Kinder aus Auschwitz.

Zumindest für mich. In diesem unwiederholbaren Augenblick. Wenn die nachgeborenen Deutschen, die Enkel und Urenkel der SS-Posten oder ersten Insassen in den KZs, die ja auch Deutsche waren, deutsche Christen und Kommunisten, deutsche Zeugen Jehovas, Freimaurer und Homosexuelle, Gedenkstätten und Denkmäler, Museen oder Kreuze brauchen, so ist das ihre Sache. Ich brauche solche Symbole nicht. Ich sehne mich nach einer Welt, in der kein Auschwitz, aber, da ich aus Jugoslawien komme, auch kein Vukovar, Mostar, Sarajevo, Srebrenica oder Kosovo mehr möglich ist. Erleben werde ich eine solche Welt nicht mehr. Ivan Ivanji