Die Orgasmusrate

Jürgen Elsässer liefert Bedenkenswertes zum DDR-Neofaschismus. Aber der Umgang mit den Fakten!  ■ Von Eberhard Seidel-Pielen

Das Entsetzen war groß, als die Wähler Sachsen-Anhalts die Deutsche Volks Union (DVU) am 26. April mit 12,9 Prozent der abgegebenen Stimmen in den Landtag katapultierten und bekannt wurde, daß die DVU bei den 18–24jährigen männlichen Jungwählern mit 38 Prozent die stärkste der Parteien wurde. Aber der ersten Aufregung folgte schnell die Beschwichtigung. Eine Protestwahl sei es gewesen, die Leute hätten die DVU gewählt aus „Not, Protest und Enttäuschung über den Weg der deutschen Einheit“, so der SPD-Fraktionschef im Brandenburger Landtag, Wolfgang Birthler, stellvertretend für viele.

Andere verwiesen darauf, daß rechtsextreme Parteien in der Vergangenheit immer wieder einmal regionale Erfolge erzielt hätten, ohne daß dies zu einem nachhaltigen bundesweiten Rechtsruck geführt habe; die „Republikaner“ erzielten bei der Europawahl 1989 in Bayern ein noch besseres Ergebnis als die DVU in Sachsen-Anhalt.

Verharmlosenden Unsinn nennt Jürgen Elsässer in seinem soeben erschienenen „Braunbuch DVU – eine deutsche Arbeiterpartei und ihre Freunde“ solche Erklärungsversuche. Die Wahl in Sachsen-Anhalt ist für ihn nicht weniger als der Beweis, daß in Deutschland der offene Faschismus wieder parlamentsfähig ist. Nun könnte man diese Einschätzung des Konkret- und Jungle World-Mitarbeiters schnell als überzogenen Alarmismus abhaken, schließlich ist Elsässer dafür bekannt, daß er den Faschismus hinter jeder deutschen Straßenecke lauern sieht. Allerdings liefert er bedenkenswerte Argumente, weshalb die Wahl in Sachsen-Anhalt tatsächlich eine Zäsur darstellt.

Die „Republikaner“, so Elsässer, haben mit 0,7 Prozent im Vergleich zur DVU in Sachsen-Anhalt nicht deshalb so schlecht abgeschnitten, weil Gerhard Frey mit höherem finanziellem Aufwand für die Ziele seiner Partei geworben hatte, sondern einzig und allein wegen der Inhalte.

Die „Republikaner“ haben im Osten auf absehbare Zeit wenig Chancen, weil sie den Rechtsradikalismus der wohlhabenden Regionen im Westen wie Bayern und Baden-Württemberg repräsentieren, die den Übergang ins High- Tech-Zeitalter relativ gut bewältigt haben. Dieser Rechtsradikalismus artikuliert sich überwiegend bürgerlich, als Wohlstands-Chauvinismus. Ausländer sind für die Vertreter dieser modernen Form des Rechtsradikalismus nicht per se schlecht, zumindest solange sie die Profite mehren. Darin sind die „Republikaner“ durchaus der Lega Nord in Italien vergleichbar.

Anders verhält es sich bei der DVU. Sie vertritt einen völkisch- vormodernen Nationalismus, der nicht mit Profit, sondern mit Blut kalkuliert. Seine Anhänger findet diese Form des Rechtsradikalismus vor allem unter der ökonomisch bedrohten Arbeiterschaft, was erklärt, weshalb die DVU nicht im prosperierenden Bayern und Baden-Württemberg, sondern in den industriellen Abbruchgebieten wie Bremen, Schleswig- Holstein, Hamburg und in der deindustrialisierten Ostzone so starken Zuspruch erhält.

Es ist die Verbindung von Sozialprotest und völkischem Haß, die Kombination aus Antikapitalismus und Antisemitismus, die die DVU in dieser sozialen Schicht so attraktiv macht. Das ist keine neue Erscheinung. Elsässer weist nach, wieviel der nationalrevolutionären Ideologie des Strasserflügels der NSDAP sich heute sowohl in der NPD als auch in der DVU wiederfindet. Tatsächlich hat die NPD, die inzwischen großen Einfluß auf die rechte Jugendsubkultur ausübt, 1996 eine Wende vollzogen. Günter Deckert, der sich vor allem auf die Holocaust-Leugnung konzentrierte, wurde durch den nationalrevolutionären Udo Voigt ersetzt. NPD und DVU verfolgen derzeit eine Doppelstrategie. Die Kaderpartei NPD kümmert sich um die Basisarbeit im jugendsubkulturellen Untergrund, die DVU drängt via Parlament an die Medienöffentlichkeit.

Elsässer bleibt in seiner Analyse nicht dem Ökonomismus verhaftet. Für ihn ist Arbeitslosigkeit alleine noch kein Grund, zum Schwein zu werden. Hierzu gehört eine psychische Disposition, die der Autor mit Wilhelm Reich, Erich Fromm und anderen Psychoanalytikern im Gepäck ausleuchtet. Elsässers Ergebnis: Bei den DVU-Wählern dominiert ein (männlicher) Sozialisationstypus, der aufgrund einer symbiotischen Mutterbeziehung unter einer Ich- Störung leidet, die in massive Verlassenheitsängste mündet. Die Ängste kippen in Aggressionen um. In seiner Liebe zu Deutschland erlebt er die Vereinigung und Verschmelzung mit der Mutter wieder und kann seine Ausstoßungsängste projektiv auslagern und an Ausländern und Asylsuchenden festmachen. Das Ergebnis ist das haßerfüllte Kollektiv.

Auch für die geringere Attraktivität faschistischer Ideologien in der DDR trotz der autoritären Formung des kollektiven Unbewußten durch den Staat liefert Elsässer eine Erklärung: Der Gefühlsstau hat sich durch häufigeres Vögeln aufgelöst. Aber mit dem tendenziellen Fall der Orgasmusrate im Osten seit 1990 manifestiert sich die sexuelle Krise auch in einer politischen.

Das „Braunbuch DVU“ bietet Diskussionswürdiges. Dazu gehört auch das Kapitel der „relativen Nähe“ zwischen der PDS und der DVU, die Elsässer vor allem an der Hinwendung eines Teils der PDS zu einem volksgemeinschaftlichen Sozialismus ausmacht.

Aber der Autor macht es dem Leser nicht leicht. Was Elsässer allein in dem Kapitel „Warum wird der Osten braun? Die rechtsradikale Lifestyle-Guerilla“ abliefert, läßt Zweifel an seiner journalistischen Seriosität aufkommen. Viel Unsinniges und Falsches wird behauptet. Zum Beispiel wenn Elsässer die Legende weiterverbreitet, Rechts-Rock-Bands wie „Noie Werte“ und Nazi-Barden wie Frank Rennike würden mehr Tonträger unters Jungvolk bringen als Michael Jackson oder Take That. Oder wenn er mal eben schnell den Glatzentreff Brunnenhof in Magdeburg in den inzwischen zu trauriger Berühmtheit gelangten Stadtteil Neu-Olvenstedt verlegt, weil dies so gut zu seiner These vom faschistischen Stadtteil paßt. Elsässers Studie ist ungetrübt von jedem persönlichen Augenschein. Man möchte dem Autor empfehlen: Recherche der Fakten sollte doch vor guter Gesinnung stehen. Und seit wann man den Verfassungsschutz als seriöse Quelle zitieren kann, bleibt des Autors Geheimnis. Bislang galt zumindest der Grundsatz: Mißtraue den Datensätzen und den Analysen aus Köln.

Richtig ärgerlich wird es, wenn Elsässer sich die Realitäten zurechtbiegt, um dann seine politischen Schlußfolgerungen daraus zu ziehen. So bezeichnet er das umstrittene Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt (AgAG) als „Strukturhilfe für Neonazis“ und belegt dies damit, daß es in Schwedt, der „ersten nationalsozialistischen Stadt Deutschlands“ (Die Zeit), 1992 richtig losging, als mit Mitteln des AgAG-Programms die ersten Jugendtreffs gegründet wurden. Die Situation in Schwedt eskalierte schon zwei Jahre vor dem Start des AgAG- Programms. Bereits 1990 haben Mitglieder der Nationalistischen Front türkische Dönerhändler und vietnamesische Gewerbetreibende terrorisiert und Schutzgelder von ihnen erpreßt – ganz ohne AgAG- Sozialarbeiter.

Vielleicht wäre weniger mehr gewesen. Vielleicht hätte Elsässer sich angesichts des ihm zur Verfügung stehenden Materials mit einem Essay begnügen sollen, statt ein Braunbuch vorzulegen.

Jürgen Elsässer: „Braunbuch DVU. Eine deutsche Arbeiterpartei und ihre Freunde“. Vorwort von Jürgen Trittin, Konkret texte 17, Hmb. 1998, 139 S., 19,80 DM