„Wichtig sind die Probleme hier“

Für die 12.000 WählerInnen türkischer Herkunft ist die deutsche Türkeipolitik nicht länger wahlentscheidend. Auch das Thema Einbürgerung tritt in den Hintergrund  ■ Von Julia Naumann

„Warum soll ich denn wählen“, sagt Selma Oztürk* und schaut gelangweilt aus dem Fenster des türkischen Reisebüros in der Kreuzberger Oranienstraße, in dem sie arbeitet. „Die da oben tun doch sowieso nichts für mich.“ Die 23jährige türkischstämmige Deutsche ist seit zwei Jahren eingebürgert und könnte jetzt erstmals ihre Stimme zur Bundestagswahl abgeben. Doch sie interessiert der Wahlkampfzirkus nicht. Oztürk hat die deutsche Staatsbürgerschaft nicht angenommen, weil sie wählen wollte, sondern „aus Sicherheit“.

Ercan Esen* findet Selma Oztürks Haltung „sehr arrogant“. Er ist seit fünf Jahren eingebürgert, kann also bereits zum zweiten Mal an der Bundestagswahl teilnehmen. 1994 hat der Industriekaufmann aus Schöneberg den Grünen seine Stimme gegeben – wen er allerdings in gut vier Wochen wählt, will er nicht verraten: „Vielleicht SPD, vielleicht Grüne, ich weiß es noch nicht.“ Nur daß er auf jeden Fall am 27. September sein Kreuz macht – das ist für den 34jährigen sicher. Klare Angaben über das Wahlverhalten der Deutschtürken können auch die türkischen Vertreter von Institutionen und Parteien nicht machen. Safter Cinar, Sprecher des Türkischen Bundes, „hat das Gefühl, daß die Beteiligung nicht sehr hoch sein wird“. Eine genauere Begründung kann er nicht geben. Nur: „Vielen ist nicht bewußt, was Staatsbürgerschaft genau bedeutet.“ Dursun Yigit, Redakteur beim türkischen Kabelsender TD-1, registriert dagegen ein „starkes Interesse“ bei seinen KollegInnen und im Bekanntenkreis. Auch Erol Özkaraca, Mitglied der Kreuzberger SPD, glaubt, daß die Wahlbeteiligung hoch sein wird.

Doch welche Partei und welche Themen spielen bei den schätzungsweise 12.000 WählerInnen türkischer Herkunft eine Rolle? Auch hier gibt es sehr unterschiedliche Einschätzungen. Mehmet Daimagüler von der Liberalen Türkisch-Deutschen Vereinigung (LTD), in der die türkischstämmigen FDP-Mitglieder organisiert sind, glaubt, daß unter den jüngeren Eingebürgerten die Union keine Rolle spiele, sondern mehrheitlich für SPD und Grüne gestimmt werde. Ahmet Ersöz, Sprecher der Türkisch-Deutschen-Unternehmer (TDU) dagegen geht davon aus, daß es bisher keine Präferenz für eine bestimmte Partei in diesem Wahlkampf gebe.

1994 sei eines der wichtigsten Wahlthemen die Türkeipolitik der Bundesregierung gewesen. Heute gebe es andere Prioritäten: „Die Türken wollen ihre Probleme hier gelöst haben und sich nicht um abstrakte in der Türkei kümmern.“ Wichtig sei dabei vor allem die Arbeitslosigkeit. Der Aufruf des türkischen Ministerpräsidenten Mesut Yilmaz, aufgrund der derzeitigen deutschen Türkeipolitik gegen Kohl zu stimmen, würde deshalb keinen Einfluß auf das Wahlverhalten haben.

Das glaubt auch Ali Yumusak, Redakteur der konservativen Tageszeitung Hürriyet: „Die Yilmaz- Aussage spielt im Wahlverhalten keine Rolle.“ Er gibt sogar eine – etaws gewagte – Wahlprognose: 50 Prozent der türkischstämmigen Wähler würden CDU und FDP wählen, 40 Prozent SPD und zehn Prozent Grüne.

In der Gunst um die WählerInnen türkischer Herkunft spielen klassische Themen wie zum Beispiel doppelte Statsbürgerschaft anscheinend nicht mehr die einzige Rolle. „Früher wurden zu Wahlveranstaltungen die ausländerpolitischen Sprecher geschickt“, sagt Safter Cinar vom Türkischen Bund. „Heute sind es prominente Bundestagsabgeordnete.“ Je etablierter und integrierter die Türken in der Gesellschaft seien, desto mehr trete für sie die „klassische Ausländerpolitik“ in den Hintergrund. Für viele seien die Ladenschlußgesetze und die Arbeitslosigkeit wichtiger als Fragen der Einbürgerung.

Wo die Stimmen der türkischstämmigen WählerInnen wahrscheinlich am meisten Gewicht haben, ist der Wahlkreis Kreuzberg/ Schöneberg. Hier buhlen sowohl Eckhardt Barthel (SPD) als auch der bündnisgrüne Christian Ströbele als Direktkandidaten um die Gunst der Deutschtürken. 1994 fehlten Ströbele knapp 6.000 Stimmen für ein Direktmandat. Bekäme er diesmal einen Großteil der türkischdeutschen Stimmen, könnte das einer der wahlentscheidenden Faktoren sein. Die Grünen drucken jetzt deswegen eine türkische Ausgabe ihrer Parteizeitung Stachel.

Barthel, der ausländerpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus ist, hofft, daß seine „engen Kontakte mit Türken“ viele Stimmen bringen. Doch da gibt es noch Sevim Celebi, die als unabhängige Einzelkandidatin türkischer Herkunft WählerInnen aus Migranten- und Projektkreisen gewinnen will. Sie könnte den Grünen-Kandidat Ströbele Stimmen kosten. 1994 gab es bereits schon einmal einen türkischstämmigen Einzelkandidat in diesem Wahlkreis. Ramazan Ciftci bekam immerhin 844 Stimmen.

*Namen von der Redaktion geändert