Mit der Trillerpfeife gegen die Knusperflocken

In der Zeitzer Süßwarenfabrik Zetti wird seit vier Wochen gestreikt. Steffi Drescher will nicht länger mit 900 Mark im Monat nach Hause gehen. Erika Kuhn dagegen meint: Besser schlecht bezahlt, als zu Hause zu sitzen – und arbeitet weiter  ■ Aus Zeitz Kathi Seefeld und Birgitta Kowsky (Fotos)

Gegen sechs kraucht die Sonne über die Dächer der Fabrik. Alter Backstein, süßliche Düfte. Steffi Drescher sucht nach der Trillerpfeife in ihrer Tasche. Mit einer Trillerpfeife, sagt sie, wächst der Mut, und die Zweifel, mit denen sie morgens aufwacht und sich vor das Werkstor stellt, flattern davon. Wie die Schwalben, die ihre Nester auch in diesem Jahr wieder an die Mauern der Fabrik gekittet haben. „Vielleicht werden wir es schaffen, vielleicht werden wir schon bald gar keine Arbeit mehr haben.“

Der Streik in der traditionsreichsten ostdeutschen Schokoladenfabrik Zetti in Zeitz geht in die vierte Woche. Steffi Drescher ist eine „im Ausstand“, wie Wolfgang Sablotny es formuliert. Der Verkaufsleiter wurde mit dem Streik zum Sprecher der Geschäftsleitung der Goldeck Süßwaren GmbH Leipzig gekürt. Zetti gehört zu Goldeck. Seitdem nun 40 Saisonkräfte und sieben festangestellte Mitarbeiter begonnen haben, vor dem Werkstor höhere Löhne zu fordern, begrüßt Sablotny allmorgendlich jene Hälfte der Belegschaft, die weiter an die Arbeit geht, mit Handschlag und dem Versprechen, die Schicht mit 50 Mark extra zu vergüten. Steffi Drescher grinst er an.

Früher hat sie als Stenotypistin gearbeitet, für gutes Geld, sagt sie, bis ihr die Zemag, eine Kranbaufirma, nach dem Mutterurlaub kündigte. Jetzt ist sie im dritten Jahr als Saisonkraft bei Zetti. Jeweils neun Monate lang hat die 31jährige Gelee-Bananen, schokolierte Nüsse und Rosinen verpackt, das meiste für Holland, „Knusperflocken“ für die neuen Bundesländer. Von morgens um fünf bis nachmittags um zwei. Verdient hat sie damit 1.577 Mark brutto. Das sind knapp 900 Mark im Monat auf die Hand und nach Gewerkschaftsangaben rund 1.000 Mark weniger als in der westdeutschen Süßwarenindustrie. Selbst 2.285 Mark brutto, die den Festangestellten bei Zetti durchschnittlich gezahlt werden, liegen deutlich unter dem, was Beschäftigte woanders wie zum Beispiel bei Halloren in Halle verdienen. „Wir wären schon mit 120 Mark mehr im Monat zufrieden“, sagt Steffi Drescher. „Viele von uns sind alleinerziehend. Da reicht es oft nicht für das Nötigste.“

Steffi Drescher gehört zu den Menschen in den neuen Ländern, die sich entschuldigen, die das Gewissen plagt, weil ihr Mann noch Arbeit hat, weil es ihnen „so schlecht nicht geht“ und sie nach Tunesien in den Urlaub fahren konnten. Warum sie überhaupt streike, haben Nachbarn gemeint, die meisten hätten gar keinen Job. Nicht mal einen, mit dem man sich von Juni, wenn bei Zetti die Weihnachtsproduktion beginnt, bis zum März des nächsten Jahres, wenn die Süßigkeiten für Ostern fertig sind, über die Runden hangeln kann.

Steffi Drescher kennt die Zahlen. Zeitz und Umgebung haben 27 Prozent Arbeitslose, eine der höchsten Quoten in Sachsen-Anhalt. Einst auch über die DDR hinaus bekannte Firmen wie die Kinderwagenfabrik Zekiwa, Zemag oder das Kosmetikwerk Zitza existieren faktisch nicht mehr. Die noch 30.000 Einwohner zählende Stadt quält sich, touristisches Flair zu verbreiten. „Aber muß man sich deswegen alles gefallen lassen?“ Steffi Drescher hält sich an jene, die sich in den letzten Wochen mit den Frauen und Männern vor den Zetti-Toren solidarisch erklärten. 5.000 Unterschriften sind zusammengekommen: Am Wochenende haben sie die Listen dem Oberbürgermeister übergeben. „Eigentlich wollen wir doch nichts weiter, als daß unsere Arbeit anerkannt wird, wir uns nicht länger unter Wert verkaufen müssen, das müssen Sablotny und Co. doch verstehen.“

Der Goldeck-Sprecher versteht nicht. Andere Unternehmen, sagt er, würden mit modernen Anlagen und weniger Personal kostengünstiger arbeiten: „Die können dann auch höhere Löhne zahlen“, sagt er in Hinblick auf die Tarifverhandlungen für die sächsische Ernährungswirtschaft, die gestern in Dresden begonnen haben. Die Goldeck GmbH hat ihren Sitz im sächsischen Leipzig. Da Zeitz jedoch in Sachsen-Anhalt liegt, könnte eine Diskussion über Zetti die Gespräche platzen lassen und erscheint deshalb wenig wahrscheinlich. Steffi Drescher weiß das.

Und was erst, wenn es stimmt, wenn trotz voller Auftragsbücher und eines avisierten Umsatzes von 27,5 Millionen Mark die Schließung von Zetti und der Untergang der Goldeck Süßwaren GmbH bereits in Kauf genommen sind? Sablotny hat „aufgrund streikbedingter Produktionsausfälle“ bereits die Stilllegung der Weihnachts- und Osterproduktionslinien angekündigt und erklärt, daß außerdem ab Anfang nächsten Jahres keine Gelees und Dragees mehr in Zeitz hergestellt würden. „Ein englisches Auktionshaus soll bereits mit der Bewertung der Gesamtanlagen beauftragt sein“, meint Steffi Drescher verunsichert.

Im Inneren des maroden Fabrikgebäudes laufen die Kupferkessel, in denen Nüsse, Rosinen und Cornflakes mit Schokolade dragiert werden, unterdessen auf Hochtouren. Erika Kuhn packt einen Stapel Kontrollzettel und schüttelt den Kopf. „Ich verstehe nicht, wie man in so einer Situation streiken kann, wo soviel Arbeit da ist“, sagt sie. Über vierzig Jahre ist die Vorarbeiterin jetzt bei Zetti. „Angefangen habe ich bei den Dragees, dann war ich in der Normung. Wir haben an den Maschinen und Bändern die Vorgaben festgelegt, wie schnell sie laufen.“ Nach der Wende kam die 59jährige wieder zu den Schoko-Dragees. Die Technik wurde aufgemöbelt. Doch statt des Aufschwungs erlebte Erika Kuhn eine schiefgelaufene Privatisierung durch die Treuhand. 1993 gaben die Alteigentümer auf, weil niemand die Süßigkeiten aus dem Osten gewollt habe, wie es hieß. Sechs Wochen war Erika Kuhn arbeitslos. Dann kam Goldeck. Jetzt, sagt sie, lägen Knusperflocken und andere Produkte aus Zeitz wieder gut im Rennen. „Da fangen wir an zu streiken!“ Erika Kuhn ist in Eile. Sie muß rüber zu den Bändern, wo neben den Saisonarbeitern auch Schülerinnen und Schüler die Weihnachts-Gelee-Früchte in Plasteschachteln zählen. Ein Auftrag von Halloren in Halle, wo fast schon Westtarif gezahlt werde. Erika Kuhn winkt ab: „Ist es nicht besser, eine schlecht bezahlte Arbeit zu haben, als zu Hause rumzusitzen?“ fragt sie. Niemand antwortet.

Nächstes Jahr geht Erika Kuhn in Rente. Viel sei es nicht, was sie bekommt, aber für einen „gemütlichen Lebensabend“ werde es wohl reichen. „Nur um die jungen Mädchen hier mache ich mir Sorgen. Die müssen noch 20, 30 Jahre arbeiten. Aber wo, wenn es Zetti nicht mehr gibt?“ Streiks, die hätten wohl früher was gebracht, in den alten Ländern. „Hier bringt das gar nichts.“ Unternehmer könnten in Polen produzieren lassen. Erika Kuhn weiß, daß Goldeck ab 1999 in einem Werksneubau, für den in Zeitz bereits 25 Millionen Mark investiert wurden, lediglich noch „Bambina“-Schokolade und „Knusperflocken“ herstellen wird. Nicht alle Zetti-Arbeiter werden dort unterkommen. Mehr will Erika Kuhn nicht sagen. Die am Markt schwer erkämpfte Weihnachts- und Osterproduktion einzustellen, anstatt den etwas über hundert Beschäftigten ein paar Mark mehr Lohn zu zahlen, was daran vernünftig sein soll? Erika Kuhn will nicht darüber nachdenken. Noch hat sie zuviel zu verlieren. Ihr Mann arbeitet auch in der Fabrik. Wie alle, die in den letzten vier Wochen pünktlich durch das Werkstor gingen, hat sie am Morgen unterschrieben, daß sie sich vom „Ausstand“ und dem am Streik beteiligten Betriebsrat distanziert. Auf dieser Liste stehen aber auch Kollegen, die krank oder im Urlaub sind, weiß Steffi Drescher, und das macht sie wütend. Wenn sich 98 Prozent der Belegschaft, so wie bei der Urabstimmung entschieden, am Streik beteiligt hätten, wäre das Problem längst vom Tisch. „Dann könnte auch niemand den Streik vorschieben, wenn hier plötzlich die Lichter ausgehen“, sagt sie leise.

Die Goldeck Süßwaren GmbH, die Zetti 1994 übernahm, ist eine Tochter der Schweizer Ost Commerz Holding AG. Nach Informationen des ARD-Wirtschaftsmagazins „Plusminus“ stehe aber die Ost Commerz Mitte nächsten Jahres vor dem Zusammenbruch, weil der Holding massive Rückzahlungsforderungen von Anteilseignern drohten. 35 Millionen Mark sollen für den Goldeck-Zetti-Fonds eingesammelt worden sein und würden nun teilweise zurückverlangt: „Es ist nicht auszuschließen, daß die Ost Com einiges opfern muß, um ihre Gläubiger zufriedenstellen zu können“, fürchtet Jörg Most von der Gewerkschaft Nahrung Genuß Gaststätten, der den streikenden Zeitzern zur Seite steht.

Mittags um eins haben die „Knusperflocken“, wie die Schokoladenwerker in Zeitz genannt werden, Schichtschluß. „Wenn die aus dem Tor kommen, werden wir sie gebührend verabschieden“, sagt Steffi Drescher. Es klingt laut genug, um den Zweifeln noch einmal ein Schnippchen zu schlagen.

Die Sonne steht hoch über den Dächern der alten Fabrik. Viele der Streikenden haben ihre Kinder mitgebracht, Freunde, Ehepartner. Steffi Drescher nimmt ihre Trillerpfeife aus der Tasche. Dann steht sie in ihren Riemchensandalen, mit Blumenrock, weißer Bluse und Gewerkschafts-Basecap vor dem Zetti-Tor und trillert, was ihr Körper hergibt. Auf die Hilde pfeift sie, die eine von denen war, die anfangs am lautesten nach mehr Geld geschrien haben, es dann aber doch mit der Angst zu tun bekam und wieder an die Arbeit ging. Sie pfeift auf Sablotny, der heute morgen, als er wie immer auf die Arbeitswilligen wartete, „doch tatsächlich nachfragte, ob er einen Kaffee von uns haben kann“. Wenn sie nicht pfeift, pfeifen die anderen: Angelika Tandke, Monika Müller, Birgit Häbrich...

Die aus der Fabrik kommen, haben es eilig. Sie flüchten. Vor den Pfiffen und der lauten Musik, die ein arbeitsloser junger Mann „aus Solidarität mit dem Streik“ aus dem Wohnhaus gegenüber auf die Straße schickt. Niemand will gefragt werden. „Die hauen uns glatt noch welche auf die Nase“, heißt es. Auch Erika Kuhn geht, seit gestreikt wird, schneller als gewöhnlich nach Hause. Sie hat kein schlechtes Gewissen. Sie kann den Streikenden in die Augen sehen. Die Wut prallt an ihr ab. Schon möglich, daß sie die eine oder andere am Nachmittag noch mal treffen wird, beim Einkaufen, auf dem Markt. Man kennt sich ja. Doch miteinander reden? Wozu? Es ist alles gesagt. Arbeit zu haben, ist das Wichtigste.

Von den Streikenden unbemerkt, biegt wenig später ein Auto aus der Tor-Einfahrt. Wolfgang Sablotny, der Sprecher der Goldeck-Geschäftsleitung, schleicht sich davon.