Das Helfen im Wandel der Zeiten

Vor 150 Jahren entstand die Innere Mission und mit ihr das duale System der sozialen Fürsorge. Im Deutschen Historischen Museum (DHM) eröffnet heute eine Ausstellung zur Geschichte der protestantischen Diakonie  ■ Aus Berlin Harry Nutt

Für Notleidende kann es von Vorteil sein, sich gut artikulieren zu können. Helferorganisationen sind nicht selten Mittler, wenn die Medien Hochwasseropfer oder Obdachlose suchen, die vor der Kamera gut rüberkommen. Ansprechend ins Bild gesetzte Armut hilft allen, Sendern, Opfern und karitativen Einrichtungen. So wurde unlängst auf dem Kongreß der Fundraiser, dem Bundestreffen der Non-Profit-Organisationen (NPO) im Bereich des Sozialmarketings, die Frage aufgeworfen, wie man sich besser in den Medien darstellen könne. Die Akteure der Sozialarbeit und des organisierten Spendenwesens haben sich ohnehin längst vom Image des weltfremden Heilsarmisten befreit und sich zu einer Art Funktionselite mit karitativem Auftrag gewandelt.

Die Fähigkeit der Wohlfahrtsverbände, sich an die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Verhältnisse anzupassen, war eine wichtige Voraussetzung für das institutionelle Überleben. Der Wandel sozialer Arbeit ist auch Gegenstand der heute im Deutschen Historischen Museum (DHM) eröffnenden Ausstellung „Die Macht der Nächstenliebe. 150 Jahre Innere Mission und Diakonie“.

Es ist kein Zufall, daß die Drucklegung des Kommunistischen Manifests von Karl Marx, die 48er Revolution und die Geburtsstunde der Inneren Mission zeitlich nah beieinanderliegen. Als Gründungsdatum des neben der Caritas größten deutschen Wohlfahrtsverbandes, der rund 450.000 Mitarbeiter in 31.000 Einrichtungen beschäftigt, wird die Stegreifrede des Hamburger Theologen Johann Hinrich Wichern auf dem protestantischen Kirchentag 1848 in Wittenberg angesehen. Wichern, der in Hamburg das „Rauhe Haus“, ein sogenanntes Rettungshaus für gefährdete Jugendliche, leitete, verstand seinen Appell für soziale Tätigkeit im Zeichen einer breit angelegten Rechristianisierung der Gesellschaft, die ihren Halt durch Materialismus und Säkularisierung zu verlieren drohte. „Es gilt die Rettung der bürgerlichen Welt“, so Wichern.

Das schwungvolle Pathos für die soziale Tat war zugleich eine Reaktion und ein Kampf gegen die immer einflußreicher werdenden Sozialisten und Kommunisten. Im Zusammenschluß des Central Ausschusses (CA) wurden die zahlreichen protestantischen Vereine gebündelt zu einer auch politisch einflußreichen Organisation. Im Lauf der Jahre wurde die Arbeit der Inneren Mission radikalisiert, aber es ging weiterhin um einen Kampf gegen die Sozialisten um die Gunst der Arbeiter. Liberalismus und Sozialdemokratie, heißt es in einem Text des CA von 1884, hätten letztlich die gleichen Ursachen: den Materialismus als neuen Gott, der für die einen den Gewinn und für die anderen die Arbeit als Quelle allen Reichtums in den Mittelpunkt stellte.

Gegen die Sozialdemokratie wollten Kirche und Innere Mission das gesellschaftliche Leben mit dem „Sauerteig des Evangeliums“ durchdringen. Das geschah bisweilen aber auch mit sehr weltlichen Mitteln. Bereits in den 20er Jahren kam das Wort vom „sozialen Konzern“ auf. Die Wohlfahrtsverbände stellten sich immer wieder auf veränderte ökonomische und politische Lagen ein. So gründete beispielsweise Martin Niemöller 1927 in Münster die „Evangelische Darlehensgenossenschaft“. Die Gründung einer Baugenossenschaft und einer gemeinnützigen Bausparkasse (Devaheim) sollte vor allem Pfarrern und kirchlichen Angestellten zu einem günstig finanzierten Eigenheim verhelfen. Die Devaheim geriet 1931 in eine akute Zahlungskrise und belastete die Arbeit der Inneren Mission schwer.

Im Titel der Ausstellung klingt an, worum es bei der Durchdringung der nichtstaatlichen Wohlfahrtsarbeit eben auch ging. Die Nächstenliebe schielte zugleich auch auf die Macht. Das hatte fatale Folgen nach 1933, als sich die Innere Mission teilweise freiwillig nationalsozialistischen Zielen verschrieb. In Einrichtungen der Inneren Mission wie Bethel bei Bielefeld wurden Zwangssterilisationen durchgeführt, die durch das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ verfügt worden waren. Zwar hatte sich die Innere Mission zu einem ausdrücklichen Nein gegen die Euthanasie durchgerungen, aber das bewahrte viele Menschen während des Krieges nicht vor den Morden an Siechen in evangelischen Krankenhäusern. Auch dieses dunkle Kapitel ist Gegenstand der Ausstellung, zu der im Katalog bedeutendes Quellenmaterial zur Geschichte der protestantischen Wohlfahrtsarbeit zusammengetragen wird.

Die Tätigkeitsbereiche der kirchlichen Sozialarbeit waren und sind vielfältig. So verstärkte sie in den letzten Jahren ihre Bemühungen im Bereich der Suchtkrankenhilfe und in der Betreuung von Asylsuchenden. Als Ergänzung zur sozialen Tätigkeit des Staates ist die kirchliche Wohlfahrtsarbeit als duales System längst unverzichtbar. Die Geschichte der organisierten Nächstenliebe ist auch die eines fortwährenden Kampfes um Einfluß und Kontrolle, die im Bereich der Erziehungstätigkeit der Inneren Mission tief in die „schwarze Pädagogik“ führte. Die Ausstellung, die die letzte des DHM vor seinem Umzug in den Neubau ist, verschließt sich dem nicht, sondern zeigt es in einer spröden, historisierenden Schau.