Die Rückkehr der Giganten

Hundert Jahre lang traute sich keiner mehr aufs Hochrad – jetzt rollt es wieder, besser denn je. Das Auf- und Absteigen bleibt allerdings eine schwierige Kunst  ■ Von Helmut Dachale

Stehleiter oder Klapptisch? Oder lieber von zwei Helfern in den Sattel hieven und anschieben lassen? Die Frage, wie man aufs Hochrad kommt (und eine Zeitlang oben bleibt), hat noch jeden Anfänger ratlos gemacht. Zu erklimmen ist bei den heutigen Nachbauten zumeist ein 56-Zoll- Antriebsrad, das mithin die zweifache Größe eines herkömmlichen Velo-Laufrades hat. Gut, früher soll's noch schlimmer gewesen sein, da gab es Vorderräder mit einem Durchmesser von 2,50 Metern. Da niemand aus dieser Höhe die an der Achse angeschraubten Tretkurbeln mit den Füßen erreichen konnte, mußten Hebel angebaut werden. Doch solche Monster waren selten, ein Rad mit einem Durchmesser von gut 140 Zentimetern ist ja auch nicht ohne. Das hintere Stützrad kann man dagegen vergessen, das ist so winzig wie eh und je. Ein Rädchen, dem nicht zu trauen ist. Wie also rauf auf diese Maschine?

In seinem Roman „Der Mann auf dem Hochrad“ schildert Uwe Timm einen Fahrradpionier, der es mit Hartnäckigkeit versuchte: „Er stieg auf und fiel um. Die Menge stand und schwieg. Er stand wieder auf und fiel wieder um.“ Und das ein ums andere Mal – was die Zuschauer in Hochstimmung versetzte.

Fabian Hoffmann ist seinen ersten Ritt erheblich lockerer angegangen. „Leicht angeduselt vom Prosecco wollte ich's auch mal probieren“, erinnert er sich. Das war vor dreieinhalb Jahren, anläßlich der Eröffnung des Oldenburger Fahrradmuseums. Neben historischen Velozipeds war auch ein Hochrad aus heutiger Produktion zu bewundern. Gesucht wurde ein wagemutiger Pilot. „An sich hat's gleich beim ersten Mal geklappt, und seitdem weiß ich, daß es gar nicht so schwer ist, wie es aussieht“, sagt Fabian Hoffmann. Zumindest bei ihm sieht es leicht aus: anschieben, dabei mit einem Fuß auf die Querstrebe steigen, die sich oberhalb des Stützrades befindet, und schon sitzt er oben. Beziehungsweise schwankt im Sattel hin und her. Aber das legt sich, er lenkt gegen und tritt unbeirrt in die Pedale. Derartige Übungen demonstriert er ab und zu auf Fahrradmessen und -kongressen. Ein eigenes Hochrad besitzt er nicht, verständlich, ein Nachbau kostet über 5.000 Mark.

Ein angemessener Preis, meint Kalle Kalkhoff. Er stammt aus einer traditionsreichen Fabrikantenfamilie, deren eigene Fahrradproduktion in den sechziger Jahren eingestellt wurde. Nachdem auch das von ihm mitgegründete Fahrradmuseum in Oldenburg bereits wieder die Pforten schließen mußte („Für so etwas gibt es keine öffentlichen Gelder“), kümmert er sich jetzt vor allem um die Verbreitung außergewöhnlicher Fahrräder. Seine Neo-Dinos bezieht er aus Tschechien, hergestellt von Vater und Sohn Mesicek, „beide begnadete Handwerker“. Zusammen mit zwei Angestellten fertigen sie pro Monat sechs Hochräder an. So, wie sie früher aussahen, aber in Wirklichkeit erheblich besser, ist der Importeur überzeugt. „Jede Schraube und Mutter stellen die selbst her.“

Wer aber braucht diese High- Tech-Hochräder, wer kauft sie? „Fahrradeinzelhändler“, sagt der Großhändler. Logisch. Die indes würden sie an die Endverbraucher selten weiterreichen, sondern eher als Dekoration ins Schaufenster stellen. „Trotzdem wollen sie immer die passende Größe“, lacht Kalle Kalkhoff, „damit sie beim Schützenfest in der ersten Reihe fahren können.“ Zur Zeit verkauft Kalkhoffs Firma KGB pro Jahr 20 bis 30 Mesicek-Modelle, es könnten mehr werden, glaubt er. Denn seit einigen Jahren werden wieder Hochradrennen ausgetragen, zuerst in den USA und in England, neuerdings auch in Holland und Deutschland. Einige Ausrichter würden streng auf alte Originale bestehen, da die jedoch kaum jemand besitze, gäbe es jetzt auch Wertungen für Nachbauten.

Daß man als „High Rider“ schnell sein und es weit bringen konnte, wurde zwischen 1870 und 1890 mehrfach unter Beweis gestellt. Diese kurze Periode war die eigentliche Hochzeit des Hochrades. Rennfahrer erzielten damals schon ein Durchschnittstempo von 30 Stundenkilometern. Die Firma Wanderer beanspruchte den deutschen Tagesrekord – einer ihrer Werksfahrer hatte sich in knapp 24 Stunden über 401,5 Kilometer gequält. Der US-Amerikaner Thomas Stevens radelte sogar „20.000 Meilen mit dem Hochrad um die Welt“ (so der Titel seiner Erinnerungen). Und das auf einem ungefederten Hochsitz, mit schwergängigem Direktantrieb, aber dafür mit einer gewaltigen Abrollstrecke pro Kurbelumdrehung.

Wer oben war, war noch längst nicht in Sicherheit. Jeder überhastete Bremsvorgang oder auch ein Stock, den das Fußvolk gerne in die Speichen hielt, führte zum gefürchteten „Header“, zum Abgang über die Lenkstange. Eleganter sei es, so Kalkhoff, langsam auszurollen und so abzusteigen, wie man hochgeklettert sei – über die hintere Fußstrebe. Wichtig sei, sagt er, „in jeder Phase cool zu bleiben“.