Ökolumne
: Von Müll und Werten

■ Was der Umgang mit Abfall über Frankreich und Deutschland aussagt

Nach den glorreichen Sechzigern begann in Europa die Ära der Müllmeisterschaft. „Wie man den Menschen in der Vergangenheit ethische Grundregeln und den Begriff der körperlichen Reinlichkeit beibringen mußte, so ist jetzt der Moment gekommen, wo man ihn zur Mülldisziplin erziehen muß“, schrieb ein Leser 1971 dem Spiegel. Früher nützte kein Entgegenstemmen: Die 1897 gegründete Hausmüllverwertung München (Frauen sortieren Glas, Knochen, Lumpen, Eisen) oder die Anfang des Jahrhunderts in Potsdam ins Haus gestellten drei Tonnen, deren korrekte Füllung polizeilich vorgeschrieben war – alles zum Scheitern verurteilt.

Dafür sorgte die aufkommende Konsumgesellschaft. Sie lebt davon, Produkte schnell in Abfall zu transformieren. Zu Abfall werden Dinge, Traditionen, Wissen, Kompetenzen. Doch inzwischen wurde viel schlechtes Gewissen produziert, zahlreiche Wertstoffeimer aufgestellt. Um Müllöfen ist es ruhig geworden: Grüne Punkte allerorten. Was dem einen sein Abfall, ist dem anderen Wertstoff. Reine Definitionssache.

Diskussionen über Müll sind Auseinandersetzungen über Vorstellungen von (Un-)Ordnung. Das ist beim Kehren zu Haus nicht anders als in der Öffentlichkeit. Ob volle Aschenbecher, staubige Regale, ausgediente Möbel – wir beseitigen nicht nur Müll, sondern ordnen die Verhältnisse: der Dinge, der Geschlechter, der Gesellschaft. „München nähert sich unverblümt dem Mist. Der jährliche ,Dreck' einer ganzen Familie bereichert den Stand. Paris hingegen fühlt sich ,sauber' und setzt auf die Technik. Neben einem Motorrad, das Hundekot aufsammelt, zeigen die Franzosen ihre neueste Müllverbrennungsanlage“, schrieb Die Presse 1989 über eine Abfallmesse. Wo Deutsche sich in der Abwehr drohender Desaster einrichten, sehen Franzosen zivilisatorische Siege.

Es gehe „ums Überleben“: Der Kassandraruf kam 1971 nicht von Ökos, sondern vom Bundesinnenminister Hans- Dietrich Genscher. Aber „wir müssen nicht im Dreck ersticken“ – wir machen ein Abfallgesetz, schaffen Ordnung! Doch die angekündigte Müllawine spaltet: Die einen wollen geordnete Abfallbeseitigung, die anderen weniger Wegwerfprodukte. Wo die einen die schnelle Wiederherstellung von Ordnung versprechen, klagen die anderen eine neue Wirtschafts-Ordnung ein. Und beide beschwören die Katastrophe. Abfallbeseitigungsanlagen sind die „Atomkraftwerke der 90er“ schreibt 1991 die taz. Töpfer spricht von der „umweltpolitischen Aufgabe der Dekade“. Seine Waffen: TA Siedlungsabfall und Verpackungsverordnung. Statt der politischen gibt es die „Recycling-Revolution“, erkennt die FAZ. Über 25 Jahre hinweg werden die Abfälle als drohende Katastrophe behandelt. Wo nicht der Nationalsozialismus verhindert wurde, wird jetzt die Welt gerettet – das ist kein Ab-Urteil, sondern Hintergrund einer lebendigen Streitkultur.

Wie anders die Franzosen! Bei ähnlicher Müllvermehrung zelebrieren sie nationale Siegesgewißheit. Experten beraten, Politik bestimmt, Medien berichten – Wirtschaft, Kommunen und Bevölkerung sollen folgen. Das nationale Interesse verkörpert sich 1971 im „Kampf gegen die Verschwendung“. „Verbessern wir die Rohstoffbilanz, und halten wir Frankreich sauber“, lauten die Regierungsparolen. „Es lebe die ultramoderne Verbrennungsfabrik, die beseitigt, ohne zu verschmutzen. Diese Wette haben Ingenieure und Architekten gewonnen, die Leistungsfähigkeit mit der Schönheit der Formen verbanden“, schrieb Humanité 1990. Wo die Deutschen die Katastrophe beschwören, die nicht eintritt, verkünden die Franzosen seit 25 Jahren Siege, die keine sind. Technisch ist der Müll gemeistert – jedenfalls im Prinzip. Keine Kritik an Politik und Experten. Die wissen, was sie tun. Die Medien sind ihr Sprachrohr. Wenn's nicht klappt, sind rückständige Bürger und Kommunen schuld – schließlich verkörpert die französische Regierung Fortschritt und Zivilisation.

Der Unterschied zwischen den Umweltkulturen liegt im Code des Politisierbaren. Was hier ein politischer Streit ist, ist dort ein technischer. „Die Müllfrage ist eine Demokratiefrage“, formulierte der BUND 1991. „Das Abfallproblem ist vor allem ein technisches Problem“, heißt es 1992 beim französischen Schwesterverband „Les Amis de la Terre“. In den Abfalldebatten werden institutionelle Ordnungen reproduziert. Wer ihren Spielregeln nicht folgt, findet kein Gehör. Allerdings: Innovativer war die katastrophische Streitkultur. Wo Siegestaumel herrscht, tut sich wenig. Reiner Keller

Vom Autor erschien das Buch „Müll – Die gesellschaftliche Konstruktion des Wertvollen“, Westdeutscher Verlag