Was wissen wir von einem Mädchen?

Fremdheit als Freiraum: Friederike Kretzen beschäftigt sich in ihrem neuen Roman „Ich bin ein Hügel“ mit dem beängstigenden Zustand der Pubertät und mit dem Verhältnis von Körper und Sprache. Ein Besuch bei der Autorin in ihrer Wahlheimat Basel  ■ Von Ulrike Baureithel

Schmalbrüstig ducken sich die Häuser um das Münster, das über die niedrigen Altstadtdächer hinüberweist auf den großen Strom. Die verwinkelten Gassen erinnern noch entfernt an das mittelalterlich-zyklische Denken, das sich hier mit der Reformation in die vertikale Unendlichkeit der Aufklärung öffnete. „Ich bin hier, weil ich froh bin, daß ich nicht in Deutschland sein muß. Seit ich in der Schweiz bin, traue ich mich zu schreiben.“ Die überraschend tiefe Stimme hallt durch die großzügige Atelierwohnung, und Friederike Kretzen hebt zu einer Erklärung an: „Ich bin hier nicht mehr so unmittelbar eingebunden in die deutschen Arten des Seins und des Sprechens. Die Schweiz macht es einem unheimlich schwer, wenn man fremd ist.“ Doch ebendiese Fremdheit eröffnet ihr den Freiraum, mit ihren Erfahrungen als Deutsche und mit Sprache anders umzugehen.

Seit fünfzehn Jahren lebt die 1956 in Leverkusen geborene Autorin in Basel. Hier debütierte sie Anfang der neunziger Jahre mit der Romantrilogie „Männer ohne Frauen“, deren dritten Teil „Ihr blöden Weiber“ die Kritik positiv und gleichzeitig schockiert aufnahm. Mit den „alten Weibern“, die alles hinter sich haben und deshalb tun, was sie wollen, hat „das Mädchen“ in Kretzens neuem Roman „Ich bin ein Hügel“ die Einsamkeit gemeinsam: „Die alten Frauen gewinnen ihre Freiheit angesichts dessen, daß sie wirklich zum alten Eisen gehören.“ Einsam und entwertet, wie sie sind, ist gerade diese „Entwertung die Bedingung dafür, ihr Ding noch einmal zu machen“. Auch das namenlose junge Mädchen ist grausam einsam inmitten einer Umgebung, die es „wie ein Berg überrollt“. Im Unterschied zu den alten Frauen jedoch, so die Vierzigjährige, „wird da gekämpft, ist noch alles offen“.

„Was wissen wir von einem Mädchen?“ heißt es deshalb im Prolog, der einzigen reflektierenden Passage des Romans. „Was kann es, was fühlt es, und hat es irgendwo was verloren? Wie soll nur die Sprache drauf kommen?“ Pubertät, glaubt Friederike Kretzen, ist ein tabuisierter, weil beängstigender Zustand, der eine Grenze markiert. Die Autorin nähert sich ihm, indem sie kurze szenische Sequenzen aneinanderreiht, teilweise realistisch, teilweise überbelichtet und bizarr. Es sind banale Situationen aus dem Alltag: die Schule, die Lehrer, deren Sätze das Mädchen ekeln, die in der Küche, dieser „Schreianstalt“ versammelte Familie, die Stadt. „Leverkusen liegt vor dem Fenster, der Stadtpark, dahinter die Sportanlagen für den Weltsporttag und die Werksangehörigen. Alle im gleichen Zustand, sie zählen von eins bis fünf, dann muß die Runde gelaufen sein, und die Schicht ist zu Ende (...) Bis abends spät noch Sport gemacht – und dann schlafen, was alles zurechtflickt. Diese Flicknächte, in denen ich von Jungen träume. Ich will ein Recht zu leben haben.“

Doch so alltäglich der Alltag der Halbwüchsigen Anfang der siebziger Jahre dahinfließt, steckt Kretzen ihn sogleich auf seine Gefährdungen hin ab: „In meinem Zimmer lege ich Essenslisten an. Ich schreibe auf, was ich esse, und daneben schreibe ich: Nicht mehr essen.“ Die Eßstörungen sind Beziehungsstörungen: zur Umwelt, den Eltern und auch zur eigenen neuen Körperlichkeit, die sich fremd ins Vertraute einmischt, Grenzen sprengt und öffnet für das Imaginäre. „Ich denke“, sagt Kretzen, „daß das Imaginäre ganz unmittelbar mit dem Körper zusammenhängt, es wird nahezu vom Körper gesteuert. Das Imaginäre ist selbst auch ein Körper, ein anderer, der ausgedehnter ist und wo die Grenzen nicht so klar sind.“

Das Verhältnis von Körper und Sprache ist ein zentrales Thema des Buches. Die Körperzustände, in die das Mädchen verfällt und die es abheben von seiner realen Tatsächlichkeit, resultieren aus seiner sprachlichen „Obdachlosigkeit“ und vice versa. Je weniger Wörter das Mädchen hat, desto mehr flieht es in eine Verpuppung, durch die es beweglich wird. Die Qualität des Textes besteht darin, die Realitätsebene zu öffnen zugunsten des noch nicht Gelebten und Gesagten und – vielleicht – auch überhaupt nicht Sagbaren.

So wird aus dem „Fisch“, der im Bauch der Mutter schwimmt, ein Landtier, das gackernd mit den Flügeln schlägt und sich – oft nur in der Phantasie – aufschwingen will. Die häufigen Tiermetaphern, die Kretzen bemüht, irritieren mitunter, denn sie zitieren Klischees, die es doch zu überwinden gälte. Kretzen indessen glaubt, daß es sich dabei um die einzig möglichen Zustände handelt, auf die sich das Mädchen in seiner Verunsicherung beziehen kann; es sind die Versionen der Zustände, die es erlebt und durch die es versucht, sich in die symbolische Ordnung „einzuschmuggeln“. Wie das Mädchen letztlich zu seiner Sprache kommt, wie es lernt, „den Mund aufzumachen“, sich seinen Platz zu erkämpfen, weiß seine Schöpferin selbst nicht zu sagen.

Vielleicht sind es ja die „Nester“ in der versehrten Lunge des Vaters, in denen sich das Mädchen einnistet. Jedenfalls führt der Weg über den Mutterverrat. „Was nutzt es schon, ein junges Mädchen zu sein, wenn dann doch eine Frau daraus werden soll?“ fragt sich die Protagonistin. Ob der Sprung, der in der Turnstunde eingeübt wird, in die Weite führt oder ,nur‘ in die „Grätsche“ des weiblichen Lebenszusammenhangs, bleibt offen, denn Kretzen hat nicht den Anspruch, Botschaften zu formulieren, auch keine feministischen. So sagt sie wenigstens. Und erzählt von einem Mädchen, das ihr Bett nimmt und es in das Zimmer stellt, wo schon der Schreibtisch steht. Im Spiegel kann es sich beim Schreiben beobachten, ausprobieren: „Ich bin ein Hügel. An diesen Satz halte ich mich.“

Dem „Hügel“ gegenüber stehen die Eltern, „Berge“ beide und scheinbar unüberwindbar. In Kretzens Romanen fungiert der Berg als Metapher des Bedrohlichen. In ihrem letzten Roman „Indiander“ gibt es eine Stelle, wo der Berg das schreibende Kind überrollt, erdrückt. „Im Berg stecken viele tote Kinder“, so Kretzen, „und für mich ist der Berg das Bild der Vernichtung, der Vernichtungsmöglichkeit in diesem Jahrhundert.“ Dieses Vernichtungspotential steckt auch in der Sprache, und so ist „der Hügel“ ein Versuch: „Gibt es überhaupt die Möglichkeit, eine eigene oder eine ein bißchen andere Geschichte zu schreiben. Ist meine Sprache nicht längst aufgeladen mit dem Berg, all dem Bergigen.“

Eine erstaunliche Aussage für eine Autorin, deren Wahlheimat untrennbar verbunden ist mit der Granit gewordenen Ewigkeit der Landschaft. Doch, wie gesagt, sie fühlt sich fremd hier, angesichts der ungebrochenen Lebensläufe, „die mich immer umhauen und mich doppelt und dreifach als Deutsche fühlen lassen“. Die aus Deutschland ausgewanderte Deutsche kann sich hier jedenfalls anders erinnern als in Leverkusen oder München, wo sie zuletzt am Theater arbeitete. Und Erinnerungsbücher sind es schließlich, die sie schreibt, auch dies eine Gratwanderung.

Es gehe ihr beim Schreiben darum, einen Raum herzustellen und zu öffnen. Die Zeitlichkeit der Erinnerung werde darin überwunden, denn „je kleiner und je näher die Erinnerungen werden, um so größer wird plötzlich der Erzählraum. Es geht gar nicht mehr um Erinnerungen, sondern um das Eingeprägte, das eine ganz andere Spur der Erinnerung ist.“ Diese Spur führt sie, trotz allen „Verrats“, den der weibliche Schmuggel in die symbolische Ordnung mit sich bringt, über die Mütter. Hilda Doolittle und Else Lasker-Schüler nennt Kretzen, wenn es um die „Mutterschreibwelt“ geht, um eine Erzählweise, durch die die kaum zu fassende „Schuld“ zwischen Müttern und Töchtern „aufgehoben“ werde: „Diese Schuld ist auch eine Erzählverpflichtung. Wie kann man einerseits die Gesetze der symbolischen Ordnung aufrechterhalten und andererseits etwas anderes machen?“

Friederike Kretzen: „Ich bin ein Hügel“. Roman. Nagel & Kimche, Zürich 1998, 180 Seiten, 37,80 DM