■ Schlagloch
: Pragmatismus als Selbstzweck Von Christiane Grefe

„Pragmatismus: im allgemeinen das zur Betreibung von Geschäften Gehörige“

Meyers Konversations-

lexikon, 1908

„Du sollst nicht an wesentliche Probleme rühren“, so heißt das oberste Gebot dieses Wahlkampfs laut Carl Amery, und weiß Gott: Leerformelproduktion und Personalentscheidungs-Wunderkerzen- „Weltklasse“- und „Politik und Spaß“-Rambazamba waren bisher kaum zu Information und Debatte über politische Ziele angetan. Wie fast immer bei Wahlkämpfen, muß man der historischen Wahrheit halber sagen. So weit, so bekannt; taktisch mag Inhaltsleere in Einzelheiten mal geboten sein. Doch ihre politische Legitimierung über den Stichtag hinaus – das ist der qualitative Sprung.

Zwei Dinge nämlich sind 1998 neu. Zum einen die beinahe religiöse Anbetung des Pragmatismus als Selbstzweck, den von Kohl über Westerwelle bis Schröder alle predigen und am feierlichsten Jost Stollmann: „Wir sind nicht links, wir sind nicht rechts, wir sind nicht ideologisch, sondern pragmatisch...“ Zum anderen macht der fatalismusgeborene Feuereifer staunen, mit dem nicht mehr allein die Wahlkampfakteure, sondern sogar solche Teile der Öffentlichkeit in diesen Gleichklang einfallen, von denen man analytische Distanz erwarten muß.

Zum Beispiel, wenn auch Wissenschaftler jene – pragmatische – Strategie des „Schweigen bis zur Wahl – aber dann!“, die Gerhard Schröder von der CDU ja auch nur gut gelernt hat, als strukturell alternativlos beschreiben: Ja, was denn eigentlich dann? Kann sich das zunehmend aufgeladene gesellschaftliche Konfliktpotential tatsächlich einfach im „Mega-Konsens“ auflösen? Fragen, die ernsthaft kaum einer mehr stellt. Auf die Spitze getrieben ist dergleichen distanzlose Politikbeobachtung in dem Aufsatz „Leise ist richtig“, der gerade in der Woche erschien. Pars pro toto soll er hier das Ausspülen der politischen Kultur durch die vermeintlich unideologische Pragmatismus-Ideologie demonstrieren.

Da bürstet der Göttinger Politologe Franz Walter seine „intellektuellen Freunde“ und ihre „nörgelnde“ Kritik am Leerformel- Wahlkampf ab – „die Sozialdemokraten wollen leise an die Macht und nicht als Avantgarde einer mitreißenden programmatischen Mega-Botschaft“ –, um dann zu applaudieren: „Glücklicherweise ist es so.“ Denn Inhaltsleere mache überhaupt regierungsfähig: „Es gibt keine überflutenden Hoffnungen, die enttäuscht werden könnten. Es gibt keine konzeptionellen Großentwürfe, die sich später vor der Realität blamieren werden. Das entlastet die Politik, öffnet erst den Raum für pragmatische, flexible, entscheidungsfreudige Politik.“ Amen, und dann wird kategorisch der Deckel zugeklappt: „Alles andere ist Feuilleton.“

Feuilleton aber ist offenbar nutzloses Vor-sich-hin-Reflektieren. So gibt Walter dem hierzulande traditionsreichen antiintellektuellen Ressentiment Zucker. Und damit der fatalen Überzeugung, daß zu viel Denken das Handeln nur störe – was aus der Feder eines für Kopfarbeiten bezahlten Geisteswissenschaftlers befremdet.

Der Hochschulabschluß scheint ihm ohnehin vor allem als Markenzeichen zu dienen; das Logo „Politologe“ zur Veredelung einer ganz profanen Parteinahme für die SPD. Denn Belege für seine Tatmenschen-Laudatio hält er kaum für nötig. Statt dessen wird, ein billigerer Unter-Wert-Verkauf wissenschaftlicher Kompetenz, das Politische überhaupt diskreditiert. Munter polemisiert der Professor gegen alles, was über den Tag hinaus gedacht, erarbeitet, erstritten werden muß: Da sind Visionen grundsätzlich irrational „berauschend“, Konzepte stets „doktrinär“, Programme bloß was für unerotische „Kärrner“. Außerdem lästig: undemokratisch ermuntert Walter den Spitzenkandidaten herzlich, möglichst viel an seiner Partei (damit indirekt auch am Parlament) vorbei zu agieren.

Lauter Backpfeifen für Idealisten. Aber genauso für jeden, der politisches Handeln als Lösungskompetenz aufgrund sachlicher Analyse und vor allem mit langfristiger Perspektive versteht. Last but not least für die Politologie, die Walter, indem er zentrale Begriffe entsorgt, gleich mit erledigt.

Derart „entlastete“ Politik mag zwar Flexibilität ermöglichen – doch sie mißt ihre pragmatischen Schritte an keinem Ziel mehr und ist dann auch selbst an nichts mehr zu messen. So vermittelt sie vor allem: Beliebigkeit. Orientierungslosigkeit. Sind auch deswegen so viele Wähler noch unentschlossen: weil sie sich mit einem solchen „Wechsel an sich“ für dumm verkauft fühlen? Ließen sie sich von übergeordneten Zukunftsentwürfen nicht doch mitreißen? Oder von – selbst schmerzlichen – Konzepten für Arbeit, Umwelt, Gerechtigkeit, wenn sie klar vermittelt sind, überzeugen? Wo ist die wissenschaftliche Basis, die beweist, daß das alles nicht geht? Auch Bill Clinton und Tony Blair, auf die sich die Apologeten des neuen Pragmatismus meist berufen, geben kaum Belege her: Clinton siegte beim ersten Mal nicht nur mit dem Slogan „It's the economy, stupid“, sondern weil er zugleich mit seinem Vize Al Gore spektakulär für die Ökologie euphorisierte, für Gesundheitsreform und Gleichberechtigung der Multikulturen stritt. Und Tony Blair lächelte für „community values“ und Bildungsreform.

Walters „moderne Politik“ hingegen kennt überhaupt keine „durchreflektierten Projekte“ mehr, in denen „zwischen Prämisse und Zielperspektive zwingende Stringenz zu bestehen hat“; der Pluralismus lasse sie nicht zu. Doch mußten sich nicht schon Reformer wie Roosevelt oder Willy Brandt mit verbindenden Botschaften in gesellschaftlicher Heterogenität durchsetzen? Und strafen nicht heute all jene, die beispielsweise in vielen – pragmatisch errungenen – Etappensiegen ihre Vision einer naturverträglichen Ökonomie verfolgen, Walters „Politik von der Hand in den Mund“-Konzept Lügen? Während das „flexible Management des Kompromisses“, das er als einzige Wahrheit propagiert und das eine De-facto-Große-Koalition seit Jahren ja praktiziert, offensichtlich scheiterte: an der Rentenreform, an der Steuerreform. An einer über Sparzickzack hinausgehenden Strukturveränderung im Gesundheitswesen. Ganz pragmatisch nichts gestemmt. Weil Pragmatismus pur Politik zum Spielball von Interessen degradiert. Und siegreich ist dann meist der ökonomisch Stärkste.

So wird am Ende auch noch der Pragmatismus selbst entpolitisiert, und der wissenschaftliche Politik- Berater zum Politik-Abrater. Ein postmodern jedes allgemeingültige Ideal verhöhnende Interessenmanagement war im historischen Pragmatismus nie gemeint. „Demokratie als moralische Lebensweise“ (Richard Bernstein) wollten die Pragmatisten vielmehr. Sie kämpften für eine vitale Öffentlichkeit, in der Unterschiede deutlich nebeneinandergestellt und dann nach praktischen Konflikt- und Zukunftslösungen gesucht würde. Aber immer mit Schillers Frage: „Zu welchem Zweck und Ende?“