■ Heute feiert die Wahrheit Geburtstag! Einer ihrer Gründerväter erinnert sich an ihre Anfänge und ihre durchaus wechselvolle Geschichte: Sieben Jahre nichts als die Wahrheit
Die Wahrheit wurde nicht in sieben Tagen erschaffen. Die Wahrheit wurde vielmehr, wie seit eh und je und überall, auch in der taz unter Schmerzen geboren.
O ja, es war ein jahrelanger blutiger Kampf. Die meisten tazler hielten eine satirische Seite schlicht für Papierverschwendung. Witze sollten andere machen, man wollte lieber Platz für weitere 500 Zeilen „wichtige“ Themen. Als es dann am 3. September 1991 endlich doch geschafft war und die Wahrheit zum ersten Mal erschien, ging der Kampf gnadenlos weiter. Die Auslandsredaktion startete einen Rundruf an die Korrespondenten: „Schreibt nicht für diese neue Quatsch-Seite, die wird sowieso wieder abgeschafft.“ Unsere Rekrutierungsversuche für die täglich erscheinende Kolumne unten links auf der Seite waren dann auch ein gigantischer Flop. „Arbeitsüberlastung“ hieß es, oder „hier im Land gibt's nichts Lustiges“. Nur einer fiel aus dem Rahmen der allgemeinen Ablehnung: Irland- und England-Korrespondent Ralf Sotscheck war sofort Feuer und Flamme. „Tolle Idee“, freute er sich, „hier passieren so viele verrückte Sachen, die brauch' ich einfach nur aufzuschreiben.“
Auch die erste Comic-strip-Serie von Lilli Mousli („Das Gruselalphabet“) stieß in der Redaktion und bei den Lesern auf breiten Widerstand: „kinderfeindlich“ sei das, „frauenfeindlich“ und „menschenverachtend“. Ihrem Nachfolger TOM ging es mit seinen Strips zunächst nicht anders, „vegetarierfeindlich“ und „sexistisch“ lautete hier das Verdikt. Doch als wir uns am 1. April 1993 den kleinen Scherz erlaubten, TOM wegen dieser Angriffe verabschieden zu wollen, brach ein Proteststurm los. Chefredakteure wurden am Telefon unflätig beschimpft, die Abo- Abteilung mußte Kündigungsdrohungen abwehren, Faxgeräte liefen Amok, und über hundert empörte Leserbriefe gingen ein – mehr als jemals zuvor auf einen einzelnen Beitrag hin. Nicht ganz so viele waren es, als ein Chef die „Gurke des Tages“ (O-Ton einer Redakteurin: „Ich lese die Wahrheit nie, aber über die ,Gurke des Tages‘ ärgere ich mich jeden Tag neu“) abschaffte. Doch nach zwei Tagen war auch die Gurke wieder drin.
Bei einem wirklich ernsthaften Versuch, die Wahrheit einzustampfen, erlebte die Anti-Humor-Fraktion allerdings eine Überraschung: Die gesamte taz- Technik, große Teile der Verwaltung und auch eine Handvoll Redakteure stellten sich hinter die Seite. Dieser Triumph wurde leider vom Abgang Mathias Bröckers', Wahrheits-Macher der ersten Stunde, überschattet, der, entnervt von den ständigen Grabenkämpfen, das Handtuch warf und das Hanf-Haus gründete.
Die große Stunde der Wahrheit im eigenen Haus schlug, als die Ergebnisse der ersten Leserumfrage nach Einführung der Seite vorlagen. Die Analyse zeigte nämlich, daß die Wahrheit nach der Seite eins die meistgelesene Seite der taz war. Auf einmal gab's nur noch Schulterklopfen, alle hatten die Wahrheit ja „immer schon toll“ gefunden. Texte aus dem eigenen Haus zu bekommen war nun überhaupt kein Problem mehr. Plötzlich wollten alle auf die letzte Seite. Auch ein Problem.
Eine so erfolgreiche Seite muß verbessert werden, dachte sich dann wieder die Chefredaktion. Deshalb wurde die Wahrheit von Tips und Anregungen gelegentlich fast erdrückt. Und von Ermahnungen: „Keine Witze mehr über Alte“ lautete beispielsweise einmal eine Chef-Direktive, weil eine Leserbriefschreiberin uns „altenfeindlich“ genannt und mit Abo- Kündigung gedroht hatte. Ein weiterer Chef konnte TOMs Strips nicht leiden. Wir nickten zu all dem immer brav ab, bekamen hin und wieder eine Abmahnung – und machten unbeirrt weiter.
Auch die Staatsmacht, in den Anfangstagen der taz ein ständiger Gast, hat sich mit der Wahrheit beschäftigt. Eines Tages standen zwei ihrer Vertreter im kleinen Redaktionsraum der großen Seite und verlangten zunächst ziemlich barsch Auskunft: „Es liegen drei Anzeigen gegen Sie vor. Es geht um diesen Singvögel-Artikel. Wir wollen die Adresse des Autors.“ Zunächst herrschte völlige Ratlosigkeit. Dann brummelte der Herr Polizist etwas von „Meisen“. Das war doch einigermaßen erheiternd: Die Anzeigen bezogen sich auf einen Text, in dem ein junger Student behauptet hatte, er würde auf seinem Balkon Meisen fangen und diese dann an italienische Spitzenrestaurants in Berlin verkaufen, weil Singvögel schließlich auch hier inzwischen als Delikatesse gälten. An diesem Tag fand keine Verhaftung statt.
Inzwischen ist die Wahrheit nicht mehr gefährdet. Im Gegenteil. Mehrere Autoren haben ihre Kolumnen in Büchern veröffentlicht, TOM ist längst ein Superstar der Comicszene, und auch die gesammelten Gurken des Tages findet man in gut sortierten Buchhandlungen. Der Wahrheit-Klub wurde gegründet, um die Die- Hard-Fans der Seite optimal zu betreuen. Ganz entspannt im Hier und Jetzt – und im Internet. Wer die Vorstandsmitglieder des exclusiven Klubs, Frau Rönneburg, Frau Häusler und Herrn TOM, kennenlernen und mehr über ihre seelsorgerische Arbeit erfahren möchte, begebe sich ins Netz. Unter http://ourworld.compuserve. com/homepages/groenling/wahr
heit.htm erfährt er die ganze Wahrheit – auch die über den sagenumwobenen LAMINATOR.
Karl Wegmann, Wahrheit-Klub- Mitglied Nr. 0000000001
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