Kundschafter für den Klassenkampf im Feindesland

■ Im wirtschaftsschwachen West-Berlin interessierte sich die Stasi für Politik und Wissenschaft

Das MfS legte nicht nur Wert auf eine saubere politische Linie seiner Genossen, sondern auch auf eine saubere Sprache. Die Worte Spion oder Agent galten im Hause Mielke (anders als in den sowjetischen oder westdeutschen Geheimdiensten) als verpönt. Für die Stasi-Profis waren die Akteure im Feindesland Kundschafter, die freilich einer spezifischen Tätigkeit im Klassenkampf nachgingen. Das wiederum taten sie gründlich, wie der Politologe Helmut Müller-Enbergs, in der Gauck-Behörde für IM-Forschung zuständig, am Mittwoch abend auf einer Veranstaltung im Rathaus Tiergarten belegte. Dort informiert derzeit die Ausstellung „Diesseits und jenseits der Mauer“ über die Berliner Bezirksverwaltung des MfS.

Rund 350 Westberliner waren 1988 den Angaben des Forschers zufolge Inoffizielle Mitarbeiter der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA), dem Auslandsspionagedienst der DDR-Staatssicherheit. Außerdem wurden rund 80 sogenannte Kontaktpersonen geführt. Sie wurden ohne ihr Wissen abgeschöpft, waren also keine IM.

Die Berliner HVA-Filiale – die ausschließlich für „Großberlin“ zuständige HVA-Abteilung XV – verfügte über 89 IM und Kontaktpersonen in West-Berlin. Darunter befanden sich unter anderem 32 Objektquellen, also Spitzenagenten „direkt in den Zielobjekten“, acht Abschöpfquellen und auch fünf Perspektiv-IM. Die Stasi, immer an die Zukunft denkend, betätigte sich also auch als Ausbilder von Azubi-Spitzeln.

Zu den von der HVA-Abteilung XV besonders intensiv beackerten Spionagefeldern in West- Berlin gehörten neben der Senatskanzlei, den Senatsabteilungen für Wirtschaft und Inneres sowie dem Landesamt für Verfassungsschutz auch die Landesverbände von CDU, SPD und FDP sowie die AL. Besonderer Zuwendung erfreuten sich außerdem, meist nichtsahnend, die Freie Universität, das Berliner Friedensforum, die Landeszentrale für Politische Bildung, die Union der Vertriebenen und Flüchtlinge, das Wissenschaftszentrum und das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung.

Daß auch die Konzerne Siemens, AEG und Schering zu den intensiv bespitzelten Objekten gehörten, ist für Müller-Enbergs kaum verwunderlich. Vieles spreche dafür, daß der HVA in den 80er Jahren die Wirtschaftsspionage das wichtigste Anliegen gewesen sei. Und deshalb auch das größte Betätigungsfeld, größer als der gesamte Politikapparat. Jedenfalls in Westdeutschland – im wirtschaftlich vergleichsweise unterentwickelten West-Berlin war die Politszene wohl doch noch eine Spur interessanter. Gunnar Leue